Das "Mega-Gedenkjahr" 2014 hatte zweifellos einiges zu bieten. Dabei stellte ein Jahrestag alle anderen Gedenk-Anlässe in den Schatten - die Rede ist vom 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges. Den europaweiten "Erinnerungsboom" nahmen die Organisatoren einer Tagung in Potsdam (7. und 8. Oktober 2014) zum Anlass, die Formen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in den Blick zu nehmen - und zwar aus einer grenzüberschreitenden, transnationalen Perspektive. Die Ergebnisse dieser Konferenz sind jetzt in Gestalt eines Sammelbandes publiziert worden.
Der Band gliedert sich in zwei Hauptteile, in denen die Einzelbeiträge unter den Schwerpunkten "Nationale Erinnerungskulturen" und "Medien der Erinnerung" zusammengefasst sind. Die Herausgeberinnen Monika Fenn (Potsdam) und Christiane Kuller (Erfurt) haben dem Band zudem einen einleitenden Beitrag vorangestellt, der zum Einen anhand der Leitbegriffe Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen verschiedene Perspektiven auf transnationale Erinnerungsprozesse aufzeigt sowie zum Anderen die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in die gegenwärtigen Debatten um (zeithistorische) Erinnerungskultur einordnet.
Das Ziel der Herausgeberinnen bestand darin, nicht nur die staatlich initiierte, offizielle Geschichtspolitik im Kontext des Centenariums unter die Lupe zu nehmen, sondern "einen weiten Bogen von wissenschaftlichen Debatten über politische Gedenkfeiern und Ausstellungen bis hin zu Filmen, Comics und Computerspielen zu spannen" (11). Außerdem sollten die Beiträge verschiedene räumliche Bezugsebenen (lokal, regional, global) erfassen.
Diese Konzeption erscheint schlüssig, geht es doch darum, transnationale Erinnerungsprozesse zu identifizieren, denen - so die Annahme - "in Zeiten der Auflösung von nationalstaatlichen Rahmungen, der Europäisierung und der Globalisierung" (16) eine wachsende Bedeutung zukomme. Forschungsmethodisch folgt daraus eine Abkehr von der Vorstellung homogener Erinnerungsgemeinschaften, die sich isoliert voneinander betrachten lassen. Transnationale Erinnerung, so betonen Fenn und Kuller, entstehe "vielmehr aus dem Zusammentreffen eines breiten Spektrums heterogener Erinnerungsphänomene und Geschichtsbilder auf unterschiedlichsten Ebenen" (15).
Im Anschluss leiten die Herausgeberinnen drei Perspektiven ab, unter denen sich transnationale Erinnerungsprozesse betrachten lassen: Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen. Es bietet sich an, die Beiträge entlang dieser Begriffs-Trias zu besprechen. Dabei sei eines gleich vorweg gesagt: Die im Buchtitel aufgeworfene Frage lässt sich - zumindest mit Blick auf den Ersten Weltkrieg als Erinnerungsgegenstand - nur mit einem klaren "Nein" beantworten.
Eine Gesamtschau der Beiträge zeigt, dass die erinnerungskulturellen Differenzen zwischen den Ländern überwiegen. So kommt André Keil zu dem Befund, der Erste Weltkrieg sei auf dem Weg, zu einem "nationalen Gründungsmythos" (114) Großbritanniens zu avancieren. Diese mythisierte Form des Erinnerns, die zudem stark patriotisch-militärische Züge trägt, weist der Autor sowohl für die Darstellung des Krieges im Imperial War Museum als für andere Erinnerungsmedien (Literatur, Film und Fernsehen) nach.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Christoph Kühberger für Österreich, wenngleich die Ausgangslage aufgrund der Kriegsniederlage Österreichs hier eine andere ist. So habe der Erste Weltkrieg "bis zum Gedenkjahr 2014 [...] in der öffentlichen Gedenkkultur keine besondere Rolle" (120) gespielt. Kühbergers Analyse konzentriert sich auf die Repräsentationsformen des Krieges im Museum. Sein Fazit ist ernüchternd: Transnationale Bezüge und multiperspektivische Ansätze kommen in den drei untersuchten Ausstellungen bestenfalls "vage" vor, stattdessen dominiert eine "'nationale' bzw. 'regionale' Nabelschau" (137).
Für die Schweiz kommt Peter Gautschi zu dem Schluss, dass tradierte Geschichtsbilder (wie jenes von der Schweiz als "Friedensinsel") ihrer identitätsstiftenden Wirkung wegen auch in der Gegenwart wichtige "Kristallisationspunkte" (158) darstellen. Dabei scheint die Insel-Metapher offensichtlich auch in erinnerungskultureller Sicht gültig, denn anstelle eines transnationalen Diskurses gilt für die Alpenrepublik: "Man ist mit sich selber beschäftigt" (159). Dialogisches Erinnern im Sinne Aleida Assmanns finde aber in der Schweiz immerhin über den "Sprachengraben" hinweg und somit zwischen unterschiedlichen Gruppen statt.
Dass es derartige Interferenzen durchaus auch über Ländergrenzen hinweg gibt, wird in einzelnen Beiträgen deutlich. Stefanie Samida und Ruzana Liburkina stellen am Beispiel der Mindener Zeitinsel IV heraus, dass die Reenactment-Szene zum Ersten Weltkrieg hinsichtlich der beteiligten Akteure transnational vernetzt ist, wenngleich auf der Ebene der vermittelten Inhalte nach wie vor nationalhistorische Deutungsmuster überwiegen (238).
Franziska Dunkel legt den Fokus ebenfalls auf die museale Darstellung des Krieges, wobei sie unter anderem drei Ausstellungen aus dem südwestdeutschen Grenzgebiet untersucht. Die Autorin weist darauf hin, dass transnationale Elemente dann erkennbar waren, wenn der "Bezugspunkt der Erinnerung selbst transnational" (220) war. Dieser Befund ist nicht unbedingt verwunderlich - Etienne François, Mitherausgeber der Deutschen Erinnerungsorte, hat schon 2005 dafür plädiert, Grenzstädte und Grenzregionen als "Schnittstellen zwischen zwei Kulturräumen" [1] zu begreifen. Umso mehr kann man sich darüber wundern, dass kein einziger Beitrag des Bandes der Kriegserinnerung in Grenzregionen gewidmet ist. Vielmehr befassen sich gerade die Beiträge im ersten Teil ausdrücklich mit nationalen Erinnerungskulturen.
Eine Ausnahme bilden die Beiträge Arnd Bauerkämpers (der eine international-vergleichende Perspektive einnimmt) und Monika Fenns. Jenseits aller nationalen Differenzen macht Bauerkämper einen Trend zur Konvergenz der europäischen Erinnerungsgemeinschaften aus. Dieser Trend geht für ihn einher mit einem neuen "Master Narrative", welches anstelle der unreflektierten Heldenverehrung das selbstkritische Erinnern und das "individuelle Leid der Opfer" (41 folgende) in den Mittelpunkt rückt.
Besonders deutlich wird das Bemühen um ein gemeinsames Erinnern zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern Deutschland und Frankreich. Schon die Planungen im Vorfeld des Centenariums, so konstatiert Fenn, seien in beiden Ländern durch "gegenseitige Aufmerksamkeit" (78) gekennzeichnet gewesen. Der Wille zur Stiftung eines verbindenden Narrativs zeige sich etwa in dem deutsch-französischen Museumsprojekt am Hartmannswillerkopf (einem der blutigsten Kriegsschauplätze im Elsass), das angesichts seiner Konzeption als "Vorzeigebeispiel" (80) für eine multiperspektivische Betrachtung gelten kann.
Ähnliches bilanziert Christine Gundermann für das Medium Comic: Transnationale Ansätze seien lediglich für Deutschland und Frankreich feststellbar - beispielsweise für das "Tagebuch 14/18", das sich an ein "bi-nationales Publikum" (177) richtet. Dass transnationale Bezüge sowohl in Comics als auch in Computerspielen (Angela Schwarz) ansonsten kaum vorkommen, dürfte nicht zuletzt auch der Eigenlogik des jeweiligen Mediums geschuldet sein, das eher der Unterhaltung als einer kritischen Aufarbeitung dient.
Ein Verdienst des vorliegenden Sammelbandes ist, dass er verschiedene Wahrnehmungen des Kriegsjubiläums sichtbar werden lässt und so eine vergleichende Synthese überhaupt erst ermöglicht. [2] Dennoch sind einige Kritikpunkte zu nennen: So fällt erstens auf, dass einzelne Beiträge (Keil, Kühberger, Gautschi) einer nationalen Perspektive verhaftet bleiben, die den Blick auf transnationale Erinnerungsdiskurse eher verstellt. Hier wäre eine stärkere Konzentration auf grenzüberschreitende Erinnerungsgegenstände beziehungsweise -orte wünschenswert gewesen.
Zweitens weisen die Analysen nur eine geringe historische Tiefenschärfe auf - obgleich die Herausgeberinnen betonen, dass sich "transnationale Erinnerungsprozesse rückblickend in weiten Bereichen der Erinnerungskultur" (16) identifizieren ließen. Ganz konkret ließe sich dies am Beispiel von Gefallenendenkmälern in Grenzregionen wie dem Elsass belegen. Dort ist das "verbindende Opfergedächtnis" (54) schon früh (in den 1920er-Jahren) in Konkurrenz zu national-patriotischen Narrativen getreten - und nicht erst in den 1980er-Jahren, wie Bauerkämper konstatiert.
Davon abgesehen liefert der Band wichtige Impulse für weiterführende Untersuchungen. Insbesondere die begriffliche Untergliederung in Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen vermag zu überzeugen - vor allem, wenn es darum geht, Kontinuität und Wandel von Erinnerungsnarrativen nachzuspüren.
Anmerkungen:
[1] Vergleiche Etienne François: Kollektives Gedächtnis, Europäisches Gedächtnis, in: Hermann Krapoth / Denis Laborde (Hgg.): Erinnerung und Gesellschaft. Mémoire et Société. Hommage à Maurice Halbwachs (1877-1945) (= Jahrbuch für Soziologiegeschichte), Wiesbaden 2005, 271-283; hier 276.
[2] Trotz des anhaltenden Booms der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung ist das (gegenwärtige) Gedenken an den Ersten Weltkrieg bislang kaum zum Untersuchungsgegenstand gemacht worden. Vergleiche jüngst auch Martin Bayer: Der Erste Weltkrieg in der internationalen Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), Nr. 16/17, 47-53.
Monika Fenn / Christiane Kuller (Hgg.): Auf dem Weg zur transnationalen Erinnerungskultur? Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Jubiläumsjahr 2014 (= Forum Historisches Lernen), Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2016, 253 S., ISBN 978-3-7344-0401-6, EUR 26,80
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