Stefanie Zabold geht in ihrer Eichstätter Dissertation den Fragen nach, über welche Vorstellungen zu historischen Inhalten Schüler*innen vor dem ersten Geschichtsunterricht verfügen und inwiefern sie über die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft verfügen, inhalts-, theorie-, methoden- und subjektbezogen historisch zu denken. Zur Kontextualisierung führt die Autorin im ersten und zweiten Kapitel in den Stand der Forschung zum frühen historischen Lernen ein. Sie berücksichtigt dabei den Forschungsstand bis 2018 und verweist darauf, dass das frühe historische Lernen ein erst in geringem Maße erforschtes Feld darstellt. Zentrale und aktuelle Studien [1] werden knapp, aber präzise bezüglich des theoretischen Hintergrunds, der empirischen Ergebnisse zu Vorstellungen junger Lerner*innen zu Geschichte und des methodischen Vorgehens vorgestellt (17-62).
Bei der Wahl der Erhebungs- und Auswertungsinstrumente orientiert sich die Untersuchung an vergleichbaren Studien und entscheidet sich für ein mehrstufiges Vorgehen mit unterrichtsnahen Formaten in der Form von Gesprächen und Arbeiten in der Klasse sowie Einzelinterviews, bei welchen die Schüler*innen Themen und Materialeinsatz auswählen konnten (Prompts). So sollte eine Komplexitätsreduktion erreicht und den Lernenden das Äußern eigener Vorstellungen ermöglicht werden (67-68). Leider werden die eingesetzten Materialien nur kurz diskutiert und nur diejenigen zur letzten Erhebungsphase (110, 125), und auch im Anhang werden nur Literaturangaben gemacht. Dies lässt die Frage nach dem Einfluss der konkreten Materialien auf die Interviews weitgehend offen. Von 68 Interviews wurden 16 ausgewählt und detailliert analysiert (140-144). Zur Datenauswertung wird eine Kombination der Inhaltsanalyse nach Mayring und Kuckartz gewählt, das Vorgehen wird transparent erläutert (145-151).
Die theoretischen Grundlagen sind geprägt vom FUER-Modell, das als Hauptbezugspunkt ausgewählt wird, weil es explizit über das schulische historische Lernen hinausgeht sowie basale Ausprägungen historischer Kompetenzen berücksichtigt. [2] Auch andere Projekte haben FUER als Bezugspunkt gewählt, was eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse ermöglicht (74-77). In der Studie wird aber die grundlegende Problematik von Vorstellungserhebungen nicht diskutiert: Bei diesen können immer nur Äußerungen zu den Vorstellungen erhoben werden und nicht die gesamten Vorstellungen der Proband*innen. [3]
Das im Anschluss dargestellte Design der explorativen und mehrheitlich qualitativ angelegten Studie überzeugt durch die konkrete Herleitung aus den vorgestellten empirischen Ergebnissen früherer Untersuchungen sowie den theoretischen und methodischen Überlegungen. Für das Sample wurde eine Varianzmaximierung durch eine möglichst heterogene, in den Merkmalen (Standort der Schule, Leistungsspektrum sowie Migrationshintergrund) maximal kontrastierende Gruppe von Schüler*innen angestrebt (68). Nach diesen Merkmalen wurden die zu analysierenden Interviews ausgewählt, in der Analyse werden sie aber nur noch am Rande thematisiert. Die Aufgaben des Gruppensettings sind an der Organisationsform von Unterricht orientiert. Durchführende ist die Lehrperson, die Autorin diskutiert hier auch mögliche Einflüsse (131-135). Der Rezensentin fehlt aber in der ansonst differenzierten Methodenreflexion eine genauere Analyse des Einflusses der Forscherin auf den Forschungskontext mit Kindern.
Die Darstellung, Auswertung und Diskussion der Ergebnisse nehmen in der vorliegenden Studie viel Platz ein, wobei die Autorin immer die gleiche Struktur verwendet und sich konsequent auf die Fragestellungen bezieht. Dies erleichtert den Überblick und die Nachvollziehbarkeit erheblich, auch wenn eine Gesamtübersicht über das Kategoriensystem fehlt. Für dieses stützt sich Zabold einerseits auf die oberen Kategorienebenen des FUER-Modells und andererseits auf schon bestehende Definitionen (153). [4] Zusätzlich generiert sie induktiv Kategorien aus dem Material. MAXMaps veranschaulichen die Codierung und zeigen erste interessante Tendenzen zum Beispiel hinsichtlich der Strukturierung auf. Im Vergleich mit verschiedenen relevanten Studien sowohl aus dem englischen wie aus dem deutschen Sprachraum zeigen sich vielfache Überschneidungen, aber auch Widersprüche. Zum Nationalsozialismus wird zum Beispiel der "Hitler(zentr)ismus" jüngerer Schüler*innen bestätigt. In Bezug auf die Kategorie "Raum" ergibt sich aus der Analyse der Gruppendaten das interessante Ergebnis, dass die Schüler*innen vielfältige Vorstellung zu den Perspektiven "Welt", "außerhalb Europas" und "Europa" äußern. Das übliche Vorgehen, vom direkten Lebensumfeld der Schüler*innen auszugehen und "vom Kleinen zum Großen" zu denken, wird infolgedessen in Frage gestellt (216). Zu den Inhalten findet die Autorin unter anderem eine Bestätigung der Ergebnisse anderer Studien, zum Beispiel in Bezug auf das Mittelalter als "Zeit der Ritter und Burgen". Zabold fasst zusammen, dass keine Empfehlung bezüglich Themen möglich ist, betont aber, wie wichtig es ist, die Ausgangslange der jeweiligen Lerngruppe und die Geschichtskultur zu berücksichtigen (220-221). Gleichzeitig sollte nicht vergessen werden, dass das Ziel eines an "Conceptual Change" orientierten Sachunterrichts immer die Erweiterung von Konzepten über die lebensweltlichen Vorstellungen der Schüler*innen hinaus sein soll, also auch Aspekte und Themen bearbeitet werden sollen, die sich nicht direkt aus den Vorstellungen der Schüler*innen ergeben.
Die epistemologischen Prinzipien wie Konstruktivität, Selektivität, Partialität sowie Retro-Perspektivität, die der Strukturierungskompetenz zugeordnet werden können, werden in einem letzten Teil dargestellt und diskutiert. Demnach konnte die Autorin in der Hälfte der ausgewerteten Interviews implizite und explizite Hinweise auf den Konstruktionscharakter von Geschichte finden (298). Perspektivität und Partialität kommen im Zusammenhang mit Zeitzeug*innen und Ruinen zur Sprache, Retrospektivität wird in allen Interviews angesprochen. Quellen und Darstellungen werden erwähnt, Äußerungen verweisen darauf, dass die Schüler*innen Quellen als "Beweise" sehen, die man bearbeiten müsse (308-313). Werden sie durch eine Aufforderung dazu angeregt, sind viele Schüler*innen kompetent genug, um sich mit Quellen und Darstellungen differenziert zu beschäftigen, so Zabold.
Der letzte Bezugspunkt der Analyse ist die Frage nach der Bedeutung, dem Sinn von Geschichte bzw. der Auseinandersetzung mit Geschichte für Gegenwart und Zukunft. Nach dem FUER-Modell ist dies der Orientierungskompetenz zuzuordnen (331). Einige Schüler*innen begründen die Auseinandersetzung mit Geschichte in ihren Aussagen mit dem Argument, dass aus der Geschichte gelernt werden könne, auch im Sinne eines "nie wieder". Insgesamt sieht Zabold ein großes Interesse für Geschichte bei Kindern, diese seien bereit sich Gedanken um die Sinnhaftigkeit der Beschäftigung mit Geschichte zu machen (341ff.).
Im abschließenden Ausblick setzt die Autorin drei Schwerpunkte. Aus ihren Ergebnissen zu den inhaltlichen Vorstellungen hebt sie hervor, dass der in der Unterrichtspraxis herrschende Fokus auf das Lebensumfeld der regionalen Geschichte und Alltaggeschichte sowie die Konzentration auf Kinder als Akteur*innen hinterfragt werden müsse. Auch jüngere Schüler*innen seien kompetent, über Geschichte nachzudenken, es bedürfe dazu aber einer vertiefteren, systematischen Erforschung der Kompetenzen (353-358). In der pragmatischen Perspektive für den Unterricht wird betont, dass "klassische" Themen wie das Mittelalter nach wie vor eine wichtige Rolle spielen, aber auf Grund der prominenten Rolle in der Geschichtskultur sollte auch das Thema Nationalsozialismus nicht ausgeklammert werden. Die Autorin kann ihre Forschungsfragen beantworten, da sie in der vorliegende Studie Aspekte des historischen Denkens in inhalts-, theorie-, methoden- und subjektbezogener Perspektive nachweisen kann. Das Thematisieren von Theorie, Methoden und Geschichtskultur ist mit Bezug auf das FUER-Modell ihrer Ansicht nach möglich. Sie plädiert, dies auch vermehrt im frühen Geschichtsunterricht schon mit jungen Schüler*innen zu nutzen und fordert ein Ende des Geschichtsunterrichts mit "angezogener Handbremse" (358-362). An dieser Stelle wird noch die Thematik des historischen Lernens als Teil des Sachunterrichts aufgegriffen, aber eher als Problem dargestellt, was als Chance und Möglichkeit im Rahmen eines viel- oder mehrperspektivischen Sachunterrichts diskutiert werden könnte, wie er dem Perspektivrahmen Sachunterricht und dem Schweizer Lehrplan 21 zu Grunde liegt.
Die vorliegende Studie von Stefanie Zabold ist ohne Zweifel ein wichtiger Schritt in dem noch wenig erforschten Feld zum historischen Denken und den historischen Kompetenzen junger Schüler*innen. Sie ist methodisch und analytisch überzeugend umgesetzt und geht transparent und weitgehend kritisch mit ihrem eigenen Design, ihren Ergebnissen und Analysen um. Vor allem wirft Zabold offene Fragen auf und schafft damit Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen.
Anmerkungen:
[1] Andrea Becher / Eva Gläser: Präkonzepte von Grundschulkindern zur historischen Methodenkompetenz. Zentrale Ergebnisse des Forschungsprojektes "HisDeKo", in: Geschichtsunterricht erforschen: Band 7. Frühes Historisches Lernen: Projekte und Perspektiven empirischer Forschung, hg. von Monika Fenn, Schwalbach 2018, 75-88.
Markus Kübler / Sabine Bietenhader / Urs Bisang / Claudio Stucky: Historisches Denken bei 4- bis 10-jährigen Kindern. Was wissen Kinder über Geschichte?, in: Geschichtsdidaktik heute, Bd. 7. Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 13: Beiträge zur Tagung "geschichtsdidaktik empirisch 13", hgg. von Monika Waldis / Béatrice Ziegler, Bern 2015, 26-41.
[2] Waltraud Schreiber / Andreas Körber / Alexander Schöner (Hgg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007.
[3] Andreas Hartinger / Lydia Murmann Schülervorstellungen erschließen - Methoden, Analyse, Diagnose, in: "Wie ich mir das denke und vorstelle..." Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern zu Lerngegenständen des Sachunterrichts und des Fachbereichs Natur, Mensch, Gesellschaft, hgg. von Marco Adamina / Markus Kübler / Katharina Kalcsics / Sophia Bietenhard / Eva Engeli, Bad Heilbrunn 2018, 51-62, hier 60.
[4] Waltraud Schreiber / Alexander Schöner: Teilprojekt Schulbuchanalyse. Richtlinien zur Codierung, Eichstädt 2008.
Stefanie Zabold: Vor dem ersten Geschichtsunterricht. Zur empirischen Erschließung des historischen Denkens junger Lernerinnen und Lerner (= Geschichtsunterricht erforschen; Bd. 10), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2020, 391 S., 49 Tbl., 67 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1099-4, EUR 42,90
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