Der hier vorzustellende Band ist in der Reihe methodica erschienen und richtet sich nach Angaben der Autoren an Studierende, Lehrende und Forschende. Diesen soll praktische wissenschaftliche Hilfe zum komplexen Thema der rechtlichen Aspekte in Spanisch-Amerika geboten werden; dies schließt einen umfangreichen Überblick zu Quellen, Hilfsmitteln, Forschungstraditionen, Forschungsliteratur, Methoden und den wichtigen Forschungsfragen ein. Vorneweg: Diese Hilfestellung ist Thomas Duve und José Luis Egío sehr gut gelungen.
Bei ihrem Vorhaben nehmen die Autoren eine kritische Einordnung ihres Werkes vor, in der sie die Rechtsgeschichte als eigenständige Disziplin verteidigen und zugleich inter-imperiale Bezüge herstellen, sich der Interaktionen mit anderen Weltregionen bewusst sind und die Rechtspraxis als integralen Bestandteil von Recht definieren. So wollen sie Rechtsgeschichte als "Herstellung von Normativitätswissen durch kulturelle Translation" und normative Ordnungen "als kulturelle und soziale Konstruktionsleistung" verstanden wissen (8).
So zeigen sie einen komplexen, rechtlichen Resonanzraum mit zahlreichen Institutionen, Korporationen und einzelnen Akteuren auf, welcher durch unklare Grenzen - auch zwischen und innerhalb der weltlichen und kirchlichen Instanzen - charakterisiert ist. Zudem weist der Rechtsraum hybride Formen peninsularer, kolonialer und indigener Rechtsvorstellungen auf. Vielfältige Lebensbereiche wie die Klärung von Eigentumsverhältnissen, Ehepraktiken, Landverteilung, Steuer- und Tributabgaben, wie auch Umsiedlungen werden kurz angesprochen. In Bezug auf die Quellen und Hilfsmittel bieten die Autoren eine umfangreiche Auflistung mit entsprechender historiografischer Einordnung sowie Erläuterungen zum Aufbau der einzelnen Quellentypen - für jede/n DoktorandIn eine überaus wertvolle Hilfestellung.
Insgesamt lässt sich daher in dem Werk ein bemerkenswert hohes Maß an Reflexion sowohl zu historischen Begrifflichkeiten als auch zur Historiographie einzelner Debatten und Konzepte finden. Insofern sind die folgenden mehr kritischen Anmerkungen als Denkanstöße für weitere Reflexion zu verstehen:
Wegen des Überblickscharakters des Buches lassen sich Verallgemeinerungen wohl nicht vermeiden und sind auch akzeptabel, solange Verzerrungen vermieden werden. Das gelingt den Autoren überwiegend sehr gut; an einigen Stellen kommt es jedoch zu unglücklichen Formulierungen, die leicht hätten vermieden werden können. So erfolgte die erste Universitätsgründung in Amerika in Santo Domingo (1538) und müsste neben denjenigen von Mexiko-Stadt und Lima aufgelistet werden (21). Zudem werden criollos/Kreolen irreführend an mehreren Stellen als Eliten bezeichnet, obgleich diese ethnisch-soziale Gruppe heterogen war und der Name zunächst nur eine eigene und von außen zugeschriebene Identität (mit entsprechenden rechtlichen Folgen) beschreibt (25f.). Die demografischen Unterschiede innerhalb Spanisch-Amerikas waren enorm: So machten Ende des 18. Jahrhunderts criollos in Peru lediglich 13% aus, in Chile jedoch bildeten sie mit rund 76% die Mehrheit - von einer reinen Elite kann daher nicht die Rede sein (Elliott, 261).
Eine weitere demografisch signifikante Gruppe bildeten die Indigenen. Diesen Gemeinschaften räumen die Autoren viel Raum ein. Dies ist nicht nur erfreulich (da immer noch nicht Standard in der Forschungsliteratur), sondern auch unerlässlich, um die kontinuierlichen interlegalen Austauschprozesse zwischen dem indigenen und spanischen (kolonialen und peninsularen) Rechtsverständnis bzw. der Rechtspraxis besser verstehen und einordnen zu können (u.a. 183). Zudem wird zurecht bei den Indigenen auf ihren rechtlichen Status als freie Untertanen verwiesen; sie werden daher in die soziale Stratifikation frühneuzeitlicher Gesellschaften verortet. Die zu pauschale Beurteilung von indigener "Ausbeutung" (22) wird erfreulicherweise durch detailliertere Darstellungen an anderen Stellen relativiert und korrigiert (48f., 180-182).
Dennoch wäre eine präzisere Trennung der sozio-ethnischen Gruppen der Indigenen und Mestizen (181) wünschenswert gewesen, da sich deren Rechtsstatus und soziale Einbindung über die Jahrhunderte durchaus unterschieden hat. Auch wäre es hilfreich gewesen, in wenigen Sätzen auf die regionalen Ausdifferenzierungen, z.B. Paraguay als Sonderfall, einzugehen. Schließlich hätte man sich mehr Informationen zur rechtlichen Stellung von versklavten Menschen gewünscht (kurze Erwähnung auf 180). Immerhin war die Quote an Freilassungen (manumissio) im spanischen Imperium die höchste unter allen europäischen Imperien in den Amerikas und die rechtliche Stellung dieser ehemals Versklavten gestaltet sich für HistorikerInnen komplex und spannend. Die besonderen Regionen Trinidad und Florida hätten in dem Werk, wie ich finde, ebenfalls eine Erwähnung verdient, auch wenn jedem Buch gewisse Platzgrenzen zugestanden werden müssen.
Dies führt mich zum letzten Punkt: dem zeitlichen und räumlichen Rahmen des Werkes. Die Autoren machen klar, dass sie einen Überblick über ganz Spanisch-Amerika über 300 Jahre geben wollen. Allerdings ist ein Schwerpunkt im 16. und 17. Jahrhundert zu erkennen. Das 18. sowie 19. Jahrhundert (auf Kuba und Puerto Rico bestand das spanische Imperium noch bis 1898) kommen sehr kurz. Außerdem wird die Frage der imperialen Kohäsion und Fragmentierung in Spanisch-Amerika, basierend auf den Rechtsverständnissen, die im Umbruch waren, fast ausgeblendet (diese tauchen bei der Ideen- und Begriffsgeschichte stichwortartig auf, 173). Außerdem wären (wenn auch nur kurze) Anmerkungen zu den geografischen Unterschieden sinnvoll gewesen. Denn regionale Unterschiede - in unterschiedlichen Jahrhunderten - waren durchaus stark ausgeprägt (in seltenen Fällen finden sich solche Referenzen wie im Falle der Chichimecas).
Als Randnotiz hätte mich der Begriff der terra nullius näher interessiert (23). Dieser wird als Kategorie für die frühe spanische Expansion angegeben, dabei wird von terra nullius gemeinhin eher im britischen Kontext Nordamerikas und insbesondere Australiens gesprochen. Hier hätte man sich eine Einordnung des Begriffes und seiner Anwendung im spanischen Rechtsdenken gewünscht.
Trotz dieser weiterführenden Anmerkungen lässt sich zusammenfassend festhalten, dass dieses Werk ein beeindruckendes, umfangreiches Fachwissen auf neuestem Stand vermittelt und dabei Informationen sinnvoll und konzise strukturiert werden. Ich jedenfalls hätte dieses Buch als Doktorand sehr gerne zur Hand gehabt und werde es fortan in meinen Unterricht dankend integrieren.
Thomas Duve / José Luis Egío (Hgg.): Rechtsgeschichte des frühneuzeitlichen Hispanoamerika (= methodica - Einführungen in die rechtshistorische Forschung; Bd. 6), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, 231 S., ISBN 978-3-11-037973-0, EUR 24,95
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