sehepunkte 24 (2024), Nr. 9

Peter Reinkemeier: Die Gouvernementalisierung der Natur

Dass das katholische Bayern ein lohnenswertes, noch zu wenig beachtetes Feld für die historische Katastrophenforschung ist, möchte Peter Reinkemeier in seiner aus einer Göttinger Dissertation hervorgegangen Studie zur "Gouvernementalisierung der Natur" im Kurfürstentum Bayern des 18. Jahrhunderts zeigen.

Im größeren Kontext der Frage nach einer sich im Zeitalter der Aufklärung ändernden Naturauffassung geht der Autor grundsätzlich von der Prämisse eines "paradigmatischen Wandels von religiös-transzendentaler zu naturwissenschaftlich-weltimmanenter Deutung der Katastrophen" (20) aus. Ziel der Arbeit ist es, vor diesem Hintergrund den Wandel der Deutungsmuster von Naturkatastrophen mit Verweis auf für den norddeutsch-protestantischen Raum für diesen Zeitabschnitt bereits vorliegende Studien mit Blick auf einen katholischen Diskursraum zu untersuchen. Das methodische und gliedernde Gerüst bietet dabei die Herausarbeitung ebenjener Deutungsmuster und Handlungspraktiken. Ein Schema, das bereits, begrifflich etwas modifiziert, von einer weiteren Göttinger umweltgeschichtlichen Dissertation mit Blick auf Schäden verursachende Umweltphänomene und ihre Bewältigung für dasselbe Territorium erprobt wurde. [1] Voneinander geschieden und für die ausgewählten Katastrophentypen jeweils getrennt untersucht werden "religiös-magische" und "säkular-weltimmanente" Deutungen sowie Praktiken.

Der Hauptteil beginnt mit den "Rahmenbedingungen des Katastrophendiskurses", wobei die Felder "Obrigkeit und Verwaltung", "Aufklärung und Wissenschaft", "Religion" und "Öffentlichkeit" als "soziokulturelle Aspekte" Berücksichtigung finden. Diese großen, viel diskutierten Komplexe werden präzise auf das Thema zugeschnitten und gleichsam für das Kurfürstentum Bayern handbuchartig-synthetisierend erörtert.

Die Suche nach Naturkatastrophen führt den Autor im wasserreichen bayerischen Voralpenland zuvorderst zu den zahlreichen Flüssen des Landes, zu Donau, Lech, Isar, Inn, Salzach, aber auch zu Amper und Paar. Gut 70% der Textmenge des Hauptteils ist der Beschäftigung mit den von den Flüssen versursachten Überschwemmungs- und Schadensereignissen gewidmet. Diese Katastrophenform dominiert die Studie und ihre Ergebnisse sehr stark. Die Hauptkapitel 3 ("Der Fluss als sozionaturaler Raum") und 4 ("Naturgefahr Hochwasser/Überschwemmung") sind im Grunde der Versuch einer umfassenden Darstellung des Komplexes Flussbau in Bayern im 18. Jahrhundert. Ein Feld, das für jene Zeit und dieselben Flüsse neben dem Autor jüngst auch von Reinhard Nießner und Nicolai Hannig (ersterer ohne jenen dezidierten Katastrophenbezug, letzterer stärker in Bezug auf das beginnende 19. Jahrhundert) bearbeitet wurde. [2]

Hinsichtlich der religiösen Verarbeitung der Folgen von Überschwemmungen erläutert der Autor, dass eine (straf-)theologische Interpretation und sich daraus ergebende Bewältigungsstrategien dieser Ereignisse nur eine sehr untergeordnete Rolle spielten und selten anzutreffen sind, was Christian Rohr so auch für den Alpenraum im Übergang von Spätmittelalter zu früher Neuzeit festgestellt hat. [3] Die säkular-weltimmanenten Deutungen weisen dann über die Akteure schon in die Darlegung der Handlungspraktiken des Wasserbaus. Unter dem Titel "Wasserbau im Wandel" beschäftigt sich die Arbeit mit den Verwaltungsreformen im Straßen- und Wasserbauwesen, die in den 1760er Jahren erstmals allein auf diese Felder spezialisierte Institutionen innerhalb der bayerischen Zentralbehörden hervorbrachten. Bezüglich der Finanzierung der Wasserbauten behandelt der Autor ausführlicher die Rolle des Scharwerks sowie die Aushandlung der Kostenverteilung zwischen Kurfürst, Grundherrn und Untertanen. Zudem werden Tendenzen zur Verwissenschaftlichung und Systematisierung des bisher auf Erfahrungswissen und reaktiven Maßnahmen beruhenden Feldes ausgeführt. Auch mit territorialen Grenz- und lokalen Nutzungskonflikten an den Flüssen setzt sich die Studie anhand einiger Fälle auseinander.

Als zweites Katastrophenfeld wendet sich die Arbeit in den Kapiteln 5 und 6 dem Wetter, genauer den Naturgefahren Gewitter und Hagel zu. Hier lassen sich, anders als bei saisonal auftretenden Überschwemmungen, im agrarisch geprägten Bayern verbreitete und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die Kritik kommende religiöse Bräuche zur Abwendung der erwarteten Schäden nachweisen, etwa die Flurumgänge und das Wetterläuten zur Gewitterabwehr. Über volksaufklärerisch-staatliche Bemühungen zur Etablierung des Blitzableiters zeigt der Autor sehr plastisch die Konflikte, die bei der wissenschaftlich gestützten Einführung einer neuen Technologie in der Auseinandersetzung mit der Beharrung auf althergebrachte und eingeübte Verhaltensweisen entstanden.

Nach einer langen Zusammenfassung führt der Verfasser in einem abschließenden Kapitel (7.1.) die Ergebnisse unter den Begriff der "Gouvernementalisierung" der Natur zusammen, worunter als zentraler Prozess eine sich herausbildende Allianz von Obrigkeit und Wissenschaft in der Erfassung und Bewältigung von Naturereignissen und damit eine ganz neuartige Qualität politisch-ökonomischen Blicks und Zugriffs auf die Natur gesehen wird.

Die ohne Abbildungen auskommende Studie von Peter Reinkemeier fußt auf einer breiten, ausdifferenzierten Quellenbasis, v.a. aus zahlreichen Beständen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs sowie religiösem Schriftgut, zeitgenössischer Traktatliteratur und Publizistik. Vereinzelte Längen in der Schilderung von konkreten Fällen und der Nacherzählung zweier sich mit Naturkatastrophen befassender literarischer Werke (u.a. Kleists Erdbeben in Chili) fallen nicht weiter ins Gewicht.

Zu fragen wäre vielleicht, ob - abgesehen von den großen Überschwemmungen Mitte der 1780er Jahre - die behandelten Ereignisse und Handlungen oder der Komplex Flussbau an sich wirklich in Gänze unter dem Begriff der Katastrophe und einem so zu fassenden Diskurs eingeordnet werden können, was sowohl die Taxierung der Schäden als auch deren Wahrnehmung durch Verwaltung, Publizistik und Bevölkerung anbelangt. Verheerende Wirkung oder eine spezifische Deutung als Katastrophe lässt sich oft nicht ausmachen. Trotz der herausgestellten Vorannahme eines einschneidenden Wandels im Zugriff auf die Umwelt überzeugt die Berücksichtigung der Weiterwirkung und ungebrochenen Bedeutung tradierter Handlungsmuster.

Auf jeden Fall ist das stilistisch souverän geschriebene Buch jedem zu empfehlen, der sich in irgendeiner Form mit der Umweltgeschichte - nicht nur Bayerns - des 18. Jahrhunderts beschäftigen möchte.


Anmerkungen:

[1] Carsten Stühring: Der Seuche begegnen. Deutung und Bewältigung von Rinderseuchen im Kurfürstentum Bayern des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2011 (Kieler Werkstücke. Reihe E: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; 9).

[2] Nicolai Hannig: Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800, Göttingen 2019; Reinhard Nießner: An Environmental History of the First Attempts to Straighten the River Inn in Tyrol (1745-1792), in: Water 16 (2024), 1568.

[3] Christian Rohr: Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2007 (Umwelthistorische Forschungen; 4).

Rezension über:

Peter Reinkemeier: Die Gouvernementalisierung der Natur. Deutung und handelnde Bewältigung von Naturkatastrophen im Kurfürstentum Bayern des 18. Jahrhunderts (= Umwelt und Gesellschaft; Bd. 27), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, 498 S., eine Tbl., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-37103-9, EUR 80,00

Rezension von:
Martin Keßler
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Martin Keßler: Rezension von: Peter Reinkemeier: Die Gouvernementalisierung der Natur. Deutung und handelnde Bewältigung von Naturkatastrophen im Kurfürstentum Bayern des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/09/36824.html


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