sehepunkte 24 (2024), Nr. 9

Rezension: Zwei Bände zur Erinnerung an Jürgen Zarusky (1958-2019)

In einer Zeit, in der rechtsextreme und rechtspopulistische Kräfte darauf zielen, eine in Jahrzehnten gewachsene deutsche Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus abzuwickeln, während eine neostalinistische Putin'sche Geschichtspropaganda paradoxerweise vor allem im Osten Deutschlands Hunderttausende mobilisiert, ist geschichtswissenschaftlicher Sachverstand zu beiden Großdiktaturen des 20. Jahrhunderts eine unverzichtbare Ressource rationaler gesellschaftlicher Selbstaufklärung. Jürgen Zarusky, der Anfang 2019 verstarb, war eine Wissenschaftlerpersönlichkeit, die diesen Sachverstand sowohl durch ein umfassendes Werk als auch durch Engagement in der Gedenkstättenarbeit und den deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen besonders glaubwürdig verkörpern konnte. So zählte der Münchner Historiker zu jenem relativ kleinen Kreis bundesdeutscher Zeitgeschichtsexperten, die sich, in Anknüpfung an eine in das frühe 20. Jahrhundert zurückreichende Forschungstradition, nach dem Ende des Sowjetkommunismus einer erneuerten, verstärkt selbst-reflexiven Form der vergleichenden Diktatur- und Totalitarismus-Forschung verschrieben.

Ausgehend von seiner frühen Beschäftigung mit dem Verhältnis deutscher Sozialdemokraten zu der sich konsolidierenden Sowjetunion, widmete sich Zarusky während seiner langen Berufsjahre am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) der Erforschung von Formen der Herrschaftsausübung und -legitimierung in totalitären und autoritären Systemen. Die Schwerpunktsetzung lag dabei auf den Justizapparaten im Nationalsozialismus und Stalinismus, aber auch die Geschichte von Opposition und Widerstand fand sein Interesse. In der Auseinandersetzung mit diesen Themenfeldern erwarb er sich nicht nur profunde Expertise, sondern auch ein hohes Maß an moralisch-ethischer Autorität. Beides setzte der Wissenschaftler beharrlich dafür ein, um Tendenzen des Geschichtsrevisionismus und der Geschichtsverfälschung, die sich seit Ende des Kalten Kriegs auf unterschiedlichen Ebenen im Umgang mit totalitären Regimen zeigten, entschieden entgegenzutreten.

Unter tatkräftiger Mitwirkung früherer Kollegen und Weggefährten aus dem Umfeld des IfZ ist 2021 ein Band erschienen, der tiefere Einblicke in das weitgespannte Werk des Verstorbenen bietet. Er enthält insgesamt zwölf veröffentlichte und nichtveröffentlichte Texte aus den Jahren zwischen 2000 und 2019, die sich im weitesten Sinne mit der Geschichte der politischen Strafjustiz, mit Widerstand und Verfolgung im 'Dritten Reich' und europäischen und deutschen Erinnerungspolitiken im Übergang von der Diktatur zu Demokratie beschäftigen. In seiner einleitenden Würdigung skizziert Andreas Wirsching Zaruskys singuläres Forschungsprofil, in dem sich neben lebensweltlichen Prägungen auch typische Entwicklungslinien der bundesdeutschen Zeitgeschichtsforschung seit dem Epochenumbruch von 1989 widerspiegeln. So habe beispielsweise Zaruskys langjährige Mitarbeit am Münchner Editionsprojekt "Widerstand als 'Hochverrat'", die bislang größte Quellensammlung zur Geschichte von Opposition und Widerstand im Nationalsozialismus, auf einen Schlag eine "riesige Forschungsagenda" generiert (4), an deren Weiterentwicklung und Verfeinerung der Historiker bis zum Schluss gearbeitet habe.

Den Mittelpunkt des Bandes bilden einige längere Textentwürfe, die seinerzeit als Vorstudien für eine größere komparatistische Arbeit zur politischen Strafjustiz im Nationalsozialismus und Bolschewismus / Stalinismus entstanden. In diesen Zusammenhang fällt auch ein abgedrucktes Vortragsmanuskript aus dem Jahr 2016, in dem Zarusky eine vorzügliche Zusammenschau der vergleichenden Totalitarismusforschung seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts liefert ("Vom Totalitarismus zu den Bloodlands"). In seiner justizgeschichtlichen Gegenüberstellung ging er seinerzeit von der im Kern zutreffenden Beobachtung aus, dass sich beide Regime, ungeachtet aller Unterschiede in der Organisation und Ausübung justizieller Gewalt, letztlich "nicht vollständig vom modernen Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit [hätten] lösen können" (19). Trotz größtenteils effizient arbeitender Polizei- und Sicherheitsapparate betrieben Bolschewisten und Nationalsozialisten teilweise einen erheblichen Aufwand, um typische Elemente der liberalen Strafjustiz des 19. Jahrhunderts, so etwa das Untersuchungsverfahren oder Routinen der Beweiserhebung, für die eigene totalitäre Herrschaftspraxis zu adaptieren und kompatibel zu machen. Wie der Autor hervorhebt, hätten somit beide Systeme in einer längeren Tradition des "Strafprozesses kontinentaleuropäischer Prägung" (20) gestanden und sich vor diesem Hintergrund darum bemüht, strafprozessuale Formen und Verfahrensweisen für die Legitimationsbeschaffung zu nutzen, sofern sie sich davon taktische Vorteile versprachen. Damit sei jedoch in keiner Weise die Absicht verbunden gewesen, sich selbst an rechtsstaatliche Verfahrensregeln zu binden. Vielmehr pflegten beide ein ausschließlich instrumentelles Verhältnis zum Recht, das sich bei Bedarf als zusätzliche Ressource der innenpolitischen Stabilisierung einsetzen ließ.

Zaruskys Konzeptionalisierungsvorschlag für einen sektoral begrenzten Diktaturenvergleich, in dem der moderne Strafprozess als tertium comparationis fungieren sollte, entstand zu einer Zeit, als das Konzept des "Gewaltraums" in der Zeitgeschichtsforschung diesseits und jenseits des Atlantiks zeitweise starke Aufmerksamkeit erfuhr. Von diesem Konzept, das insbesondere in den ostmitteleuropäischen Ländern viel Zuspruch fand, gingen wirkmächtige Geschichtsbilder und Assoziationsketten aus, die sich teilweise bis heute auf nationale und supranationale Erinnerungskulturen auswirken. Insofern richtete sich das Plädoyer für eine empirische Vergleichsperspektive auch dezidiert gegen Werke wie Timothy Snyders "Bloodlands" (2010) oder Jörg Barberowskis preisgekrönten Beststeller "Verbrannte Erde" (2012). Beiden Forschern warf Zarusky seinerzeit vor, "von den Sinnzusammenhängen der Gewaltausübung" zu abstrahieren und grundlegende Unterschiede zwischen beiden Systemen zu verwischen, indem sie diese hinter dem "synthesierenden Konzept des Gewaltraums" verschwinden ließen (14).

Blickt man auf die jüngere Entwicklung der europäischen Erinnerungskulturen, erscheint die Kritik an einer ahistorischen Einebnung von unterschiedlichen Formen der politischen Massengewalt nach wie vor höchst aktuell. Auf der anderen Seite hat die Geschichtsforschung die damaligen Kontroversen zum Teil hinter sich gelassen. Speziell die juristische Zeitgeschichte hat in den vergangenen zehn Jahren im Zuge eines cultural turn neue und innovative Wege beschritten, um den national- und herrschaftsgeschichtlichen Blickwinkel der älteren Forschung zu erweitern. Dies hat nicht nur zu einer Neukonzeptualisierung der politischen Justiz im Sinn einer transnationalen Verflechtungs- und Transfergeschichte geführt [1], sondern lässt auch die Bedeutung des Strafrechts in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts in einem nuancierteren Licht erscheinen. Besonders für die stalinistische Strafjustiz gilt, dass sich das Forschungsinteresse vom Einsatz als Repressions- und Terrorinstrument zum Produzenten identitätsstiftender Narrative und Bilder verlagert hat, etwa bei der Abrechnung mit NS-Tätern und Kollaborateuren oder den publikumswirksamen Kommunistenprozessen der Nachkriegszeit. [2] Insofern haben wir es mit einer längeren, stark ereignisabhängigen Forschungsentwicklung in Bezug auf das Verhältnis von Politik, Recht und gesellschaftlichen In- und Exklusionsmechanismen im 20. Jahrhundert zu tun, in der Zaruskys diktaturgeschichtlichen Vorstudien ein wichtiger Platz zukommt.

Der zweite Abschnitt des Buchs, der dem Themenfeld 'Widerstand und Verfolgung' gewidmet ist, knüpft an Zaruskys frühe Forschungsarbeiten an, indem er Gemeinsamkeiten und Querverbindungen zwischen Vertretern der deutschen Sozialdemokratie und antistalinistischen Menschewiki im deutschen, französischen und amerikanischen Exil herausarbeitet. Wiederabgedruckt beziehungsweise erstmals veröffentlicht wurden darüber hinaus drei weitere zentrale Texte, die sich mit der Hochverratsjudikatur im 'Dritten Reich', dem kommunistischen Widerstand im 'Dritten Reich' sowie mit dem erschütternden Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener im bayerischen KZ Dachau beschäftigen. Diese Beiträge unterstreichen nicht nur die herausgehobene Rolle des kommunistischen Widerstands in der Geschichte des Kampfes gegen den Nationalsozialismus, sondern machen auch deutlich, dass die Kriminalisierung der linken politischen Opposition, die sich bereits 1933 auf die SPD und linkssozialistische Sozialistische Arbeiterpartei erweiterte, tatsächlich nicht erst mit der Einsetzung des Volksgerichtshofs, sondern bereits bedeutend früher mit der Hochverrats-Judikatur des Leipziger Reichsgerichts begann.

Ein weiterer Schwerpunkt von Zaruskys wissenschaftlicher und publizistischer Tätigkeit waren die europäischen Erinnerungskulturen und die sich nach 1989 entwickelnden memory wars in Ost und West, die im dritten und letzten Teil des Bandes behandelt werden. Insbesondere mit der Aufspaltung in ein westliches Holocaust-Gedächtnis und eine osteuropäische Erinnerungslandschaft, die bis heute stark durch einen konflikthaften Umgang mit dem stalinistischen Erbe geprägt ist, hat sich der Autor wiederholt kritisch beschäftigt. In besonders beeindruckender Weise gelingt dies in einem Porträt des ukrainisch-jüdischen Schriftstellers Vasilij Semionowitsch Grossman (1905-1964), dessen umfangreiches Werk in Deutschland lange vergessen war und erst in den letzten zwanzig Jahren wiederentdeckt wurde. Ausgehend von dem Befund, dass die Auseinandersetzung mit den gewaltsamen Erfahrungen von Krieg, Besatzung und Genozid zu einer "tief zerklüfteten Erinnerungslandschaft" geführt habe (237), zeigt sich Zarusky davon überzeugt, dass auch große Literatur dazu beitragen könne, jene "widerspruchsvolle Dialektik von Befreiung und Unterdrückung" zu verstehen, die sich vor allem in der Niederringung des NS-Regimes durch eine stalinistisch geprägte Rote Armee manifestiert habe. So könne Grossmans Werk gerade in Deutschland den Blick dafür schärfen, dass das Großverbrechen des Holocaust in einem erheblichen Ausmaß auf dem Gebiet der besetzten Sowjetunion verübt worden sei. Auf der anderen Seite mache Grossmans Roman "Leben und Schicksal" deutlich, dass der Holocaust gleichermaßen als universales Ereignis und als spezifische Gruppenerfahrung verstanden werden müsse, der sich nicht auf eine bloße Chiffre für schwere Menschenrechtsverletzungen reduzieren lasse. Denn jede Erinnerung müsse "konkret bleiben", weil sie sich andernfalls "in ein maskiertes Vergessen" verwandeln würde (250).

In zugespitzter Form wird diese Erkenntnis in zwei weiteren Beiträgen auf die erinnerungskulturellen Auseinandersetzungen nach Ende des Kalten Kriegs übertragen. Anhand verschiedener (Länder-)Beispiele analysiert Zarusky dort die sich entwickelnden Dynamiken einer gesamteuropäischen Erinnerungspolitik, die gleichermaßen durch die Bedürfnisse einer nach Integration strebenden Europäischen Union (EU) und nationalidentitäre Agenden der Einzelstaaten angetrieben wurde. Ausgehend von den großen Geschichtskontroversen der Achtziger und Neunziger (Historikerstreit 1986/87, Schwarzbuch des Kommunismus 1997), bei denen es im Kern weniger um die Vergleichbarkeit von Stalinismus und Nationalsozialismus, sondern eher um deren Hierarchisierung und Einordnung in eine imaginierte Skala ultimativer Menschheitsverbrechen ging, wendet sich Zarusky verschiedenen Initiativen und Stimmen zu, die nach dem Ende des Sowjetkommunismus im öffentlichen Raum eine spezifische Deutung des Stalinismus in einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur zu verankern suchten. Als prominenteste Beispiele können hier sicherlich die im Juni 2008 verabschiedete "Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus" und die daran anknüpfende Entschließung des Europaparlaments "zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus" vom 2. April 2009 gelten. [3] Das letztgenannte Dokument, das nicht nur aufgrund seiner politisch-didaktischen Stoßrichtung, sondern auch wegen seiner inhaltlichen Breite als Schlüsseldokument einer menschenrechtlichen Transitional Justice à la EU gelten kann, [4] bekräftigte in einer Art Formelkompromiss die Bedeutung des 23. August als "Europäischer Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nazismus".

Zaruskys Beitrag kritisiert die Gedenkinitiative und die dahinter liegende Absicht osteuropäischer Politiker und Intellektueller, darunter auch der spätere Bundespräsident und Ex-Bürgerrechtler Joachim Gauck, den Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts zu einem gesamteuropäischen Gedenktag aufzuwerten, mit ungewöhnlich scharfen Worten. So sieht er darin den Versuch, durch die "Parallelisierung von Massenverbrechen" die "Spezifik der Geschichte beider Systeme" verwischen zu wollen (267). Grundsätzlich falle die Erklärung weit hinter den historischen Erkenntnisstand zurück. Denn weder sei die Behauptung einer geteilten Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg haltbar, noch könne man die Stalin'schen Massenverbrechen und den Holocaust ohne weiteres auf eine Stufe stellen. Vor allem aber, so die Meinung des Autors, verstelle die Fixierung auf den 23. August paradoxerweise den Blick auf die Tatsache, dass sich zentrale Großverbrechen der stalinistischen Politik wie etwa die Zwangskollektivierung, das Menschheitsverbrechen der Hungersnot und der Große Terror 1937/38 bereits lange vor diesem Ereignis abspielten und Millionen von Opfern unter den Sowjetbürgern forderten.

Mit dem russischen Überfall auf die Gesamtukraine haben auch die seit 1989/91 schwelenden geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um den Umgang mit gewaltsamen Vergangenheiten eine neue existenzielle Bedeutung und Dringlichkeit erhalten. Im Nachhinein kann man wohl sagen, dass sich Zaruskys Mahnung, die Geschichte in all ihren Widersprüchlichkeiten wahrzunehmen und Staaten wie Russland, die Ukraine und Weißrussland bei der Konzeption einer gesamteuropäischen Erinnerungs- und Geschichtskultur miteinzubeziehen, nur allzu berechtigt war (259). Ob er als intimer Kenner der deutsch-ostmitteleuropäisch-sowjetischen Gewaltgeschichte eine Mitverantwortung der EU und westlicher Kommentatoren für die fortlaufende Radikalisierung und nationalistischen Aufladung der russischen Erinnerungspolitik erkannte, lässt sich anhand der Texte nicht eindeutig bestimmen. Auffällig ist allerdings, mit welchem Nachdruck er bereits Mitte der Nuller Jahre "weiße Flecke" im Geschichtsbewusstsein einflussreicher westlicher Russland-Kritiker wie Anne Applebaum diagnostizierte und vor einer "herablassenden Haltung gegenüber den Veteranen der Roten Armee" warnte (257).

Angesichts dieser Klarheit in der Kritik, die auch honorige Persönlichkeiten wie die ehemalige lettische Staatspräsidentin und Trägerin des Hannah-Arendt-Preises Vaira Vike-Freiberga nicht ausnimmt, hätte man sich an der einen oder anderen Stelle des Buches gewünscht, dass Zarusky, der bis zu seinem Tod als Chefredakteur des wichtigsten deutschen Publikationsorgans für Zeitgeschichte wirkte, die Blindstellen und "Normalisierungsdiskurse" der deutschen Geschichtskultur stärker fokussiert hätte. Unaufgearbeitet ist etwa bis heute, dass Ernst Nolte an deutschen Wissenschaftseinrichtungen lange ein gern gesehener Gast war und kein Geringerer als der ehemalige IfZ-Direktor Horst Möller, Herausgeber des Bandes "Der rote Holocaust und die Deutschen", noch 2000 anlässlich der Preisverleihung der Deutschland-Stiftung die Laudatio für diesen hielt. Ungeachtet solcher vereinzelten Schwächen, die der Textauswahl geschuldet sein mögen, ist die Lektüre des Bandes ansonsten ein großer Gewinn. Er erweckt eine Stimme zum Leben, die über die seltene Gabe verfügte, die schwierigen Geschichtskontroversen zum Umgang mit Nationalsozialismus und Stalinismus einem größeren Publikum in ebenso kompetenter wie unbestechlicher Weise nahezubringen.

Als eine posthume Festschrift für Zarusky versteht sich demgegenüber der Sammelband "Recht, Unrecht und Gerechtigkeit", dem ein persönlich gehaltenes Vorwort aus der Feder von Sybille Steinbacher und eine knappe Einleitung der vier Herausgeberinnen und Herausgeber vorangestellt sind. Der Band versammelt 18 Beiträge von 20 Autorinnen und Autoren, die gebeten wurden, sich mit spezifischen Aspekten von Zaruskys Forschungsarbeiten auseinanderzusetzen. Ein erster Teil widmet sich unter der Überschrift "Verfolgung, Unrecht und Justiz 1939 bis 1945" der Geschichte der nationalsozialistischen Justiz und des Besatzungsterrors in der Sowjetunion (Sergej Slutsch, Alan E. Steinweis, Bert Hoppe, Johannes Hürter). Im zweiten Teil geht es um die Geschichte der juristischen Aufarbeitung nach Kriegsende, verdeutlicht an den Beispielen der sowjetischen Militärgerichte (SMT's) in Deutschland (Andreas Hilger), dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und dem Jerusalemer Eichmann-Prozess (Wolfgang Benz) sowie der juristischen "Vergangenheitsbewältigung" durch die Alta Corte di Giustizia im Nachkriegsitalien (Hans Woller). Auf der Grundlage von Verfahrensakten aus dem Nachlass Josef Müller ("Ochsensepp") beschäftigt sich Thomas Schlemmer mit dem rassistisch aufgeladenen Antikommunismus in der CSU und BP. Pavel Polian schildert das Schicksal von Boris Menschagin, der von den deutschen Besatzern ernannte Bürgermeister der Stadt Smolensk, der wegen angeblicher landesverräterischer Tätigkeit für den Feind insgesamt 25 Jahre in Einzelhaft verbringen musste. Susanna Schrafstetter arbeitet anhand zweier Fallbeispiele aus der unmittelbaren Nachkriegszeit die ungleichen Maßstäbe im Umgang mit NS-Justizunrecht heraus.

Schließlich behandelt ein dritter Teil "Erinnerung und das Recht auf Anerkennung" aus unterschiedlichen Perspektiven die Nachkriegserinnerung an die NS-Massenverbrechen und die vielfach ausgebliebene Entschädigung für die Opfer. Im Mittelpunkt der Beiträge stehen Partisanen deutscher Nationalität in der Slowakei (Michal Schwac/ Martin Zückert), die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im NS-Deutschland (Natalja Timofejewa), Porträts von Überlebenden des KZ Dachau (Barbara Distel), das Scheitern von Transitional Justice für die Opfer der nationalsozialistischen (Erb-)Gesundheitspolitik (Annette Eberle), die Aktivitäten des Verbands ehemaliger minderjähriger Häftlinge des Faschismus (Yuliya von Saal), die juristischen Auseinandersetzungen über die späte Entschädigung nach der Ghettorentengesetzgebung (Stephan Lehnstaedt) und eine kritische Reflexion von Katja Makhotina zum gegenwärtigen Stand der Kriegserinnerungen und dem "Genozid-Turn" in den kollektiven Gedächtnissen Russlands und der Ukraine.

Ein großes Verdienst des Bandes liegt darin, dass sich die Herausgeber vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges und eingefrorener Wissenschaftsbeziehungen bemüht haben, den Dialog zwischen deutschen Forschern und Kollegen aus Russland und Ostmitteleuropa fortzusetzen. Alle Beiträge sind daher von Autorinnen und Autoren verfasst, die sich ebenso wie Zarusky intensiv mit den deutsch-sowjetischen Beziehungen, den Nachwirkungen des deutschen Angriffskriegs gegen die Sowjetunion und den Einzelschicksalen der Opfer auseinandergesetzt haben. Insofern vermittelt das Buch einen guten Eindruck davon, welche inhaltlichen und methodischen Annäherungen, aber auch welche Differenzen bei der gemeinsamen Erforschung einer Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts nach gut drei Jahrzehnten zu verzeichnen sind. Damit bietet die posthume Festschrift wichtige Orientierungspunkte für künftige Forschungskooperationen, sollten diese zu einem heute noch nicht absehbaren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden. Denn wie Irina Scherbakowa in ihrem Nachwort hervorhebt, bedürfe es für die Erforschung der Großdiktaturen des 20. Jahrhunderts eines "humanistischen Ansatzes" (427), der die Strukturen totalitärer Gewaltausübung erforschen und erkennen kann, ohne dabei den einzelnen Menschen aus dem Blick zu verlieren. Der verstorbene Jürgen Zarusky verkörperte diesen Ansatz durch sein Werk und seine weitgespannten persönlichen Netzwerke.


Anmerkungen:

[1] Jonas Brosig: Der politische Strafprozess. Eine Spurensuche, in: Journal der Juristischen Zeitgeschichte 17 (2023), 3; https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/jjzg-2023-0036/html?lang=de

[2] Vgl. Nadège Ragaru: Introduction: Viewing, Reading, and Listening to the trials in Eastern Europe. Charting a New Historiography, in: Cahier du Monde Russe 61 (2020), 3-4, 297-316.

[3] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-6-2009-0213_DE.html?redirect (08.09.2024).

[4] Vgl. Annette Weinke: Transitional Justice in Europe, in: Lawrence Douglas/ Alexander Laban Hinton/ Jens Meierhenrich (eds.): Oxford Handbook of Transitional Justice, Oxford 2023; Online-Fassung: https://academic.oup.com/edited-volume/51233/chapter-abstract/440483454?redirectedFrom=fulltext (08.09.2024).

Rezension über:

Jürgen Zarusky: Politische Justiz, Herrschaft, Widerstand. Aufsätze und Manuskripte (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 122), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, X + 316 S., ISBN 978-3-11-072789-0, EUR 24,95

Annette Eberle / Thomas Schlemmer / Susanna Schrafstetter / Alan E. Steinweis (Hgg.): Recht, Unrecht und Gerechtigkeit. Politische Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Für Jürgen Zarusky, Berlin: Metropol 2023, 454 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-86331-719-5, EUR 36,00

Rezension von:
Annette Weinke
Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Empfohlene Zitierweise:
Annette Weinke: Zwei Bände zur Erinnerung an Jürgen Zarusky (1958-2019) (Rezension), in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/09/38739.html


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