sehepunkte 24 (2024), Nr. 9

Volker Reinhardt: Der nach den Sternen griff

Volker Reinhardt hat es wieder getan. In die eindrucksvolle Reihe seiner Biografien prominenter spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Persönlichkeiten - Scipione Borghese, Francesco Vettori, Michelangelo, Alexander VI. Borgia, Niccolò Machiavelli, Pius II. Piccolomini, Marquis de Sade, Martin Luther, Leonardo da Vinci, Voltaire und Michel de Montaigne wurden bereits gewürdigt - gesellt sich nun Giordano Bruno.

Berühmt ist Bruno vor allem für seinen Feuertod aufgrund seiner von der päpstlichen Inquisition als Häresie verurteilten Thesen. Letztere stehen aber nicht im Fokus der Biografie, sondern sein "ketzerisches Leben", wie der Untertitel ankündet. Gerahmt von Einleitung und Epilog beleuchten sechs chronologisch geordnete Großkapitel den Werdegang des 1548 vermutlich in Nola geborenen und daher als Nolaner bezeichneten "freieste[n] aller Freidenker" (12).

Das erste Kapitel ist der Kindheit und Lehrzeit gewidmet; der Erstakademiker erscheint als begabter und rebellischer Schüler, den es als Novizen nach San Domenico in Neapel führt. Ein Kloster, in dem zu dieser Zeit Verbrechen scheinbar auf der Tagesordnung stehen. Reinhardt beruft sich auf Akten, die etwa Mord und Todschlag bezeugen; ein Bruder habe selbst während einer Messe einer Frau eine Goldkette vom Hals gerissen. Ein Umfeld also, das nicht wenige Impulse für kritisches Denken bot und in dem Bruno selbst durch das Abhängen von Heiligenbildern auffällig wird.

In diesem Sinne deutet der Autor auch die nachfolgenden Lebensstationen als rastlose, wenn auch erfolglose Suche nach einem Ort, an dem der Nolaner langfristig frei denken und publizieren konnte. Im zweiten Kapitel "Auf der Suche nach Gedankenfreiheit" tritt Bruno in Rom aus dem Dominikanerorden aus, gelangt über einige italienische Städte zunächst nach Genf, Toulouse und Paris. In der französischen Hauptstadt findet er in König Heinrich III. einen Gönner und der Candelaio (Kerzenmacher) erscheint. Ein Intrigenspiel um Wollust, Alchemie und Macht, das als eines der wenigen Werke im Rahmen der Biografie detaillierter besprochen wird. Reinhardts Interpretation des Titels als Phallussymbol ist genauso beizupflichten wie der Annahme, der Inhalt sowie jener der "bitterbösen" Satire Gesang der Circe hätten zumindest dazu beigetragen, dass Bruno auch am vergleichsweise aufgeschlossenen französischen Hof nicht verweilen konnte.

Im dritten Kapitel begleiten wir den Nolaner nach England. In Oxford sorgt er durch zu starke Aristoteleskritik zwar für einen Skandal, findet im London Königin Elisabeths I. aber Aufnahme im Hause des französischen Botschafters Michel de Castelnau. Hier veröffentlicht er, wie Reinhardt treffend hervorhebt, den späteren Inquisitoren wohl unbekannte Publikationen, in denen er die Erde als lebendigen Organismus und das Universum als unendlich begreift, den Papst, die Herrschenden sowie Religionen insgesamt kritisiert.

Mit der Abberufung de Castelnaus aus London muss sich auch Bruno im vierten Kapitel wieder auf Reisen begeben. Über einen Zwischenstopp in Paris gelangt er ins Heilige Römische Reich. In den Universitätsstädten Marburg und Wittenberg scheint er zwar Vorlesungen gehalten, aber keine Anstellung gefunden zu haben, genauso wenig wie in Prag, wo ihm Kaiser Rudolf II. jedoch 300 Taler als Abschiedsgeschenk überreicht, oder in Helmstedt, wo er nach sechsmonatigem Aufenthalt sogar gebannt wird.

Im fünften Kapitel retourniert der Nolaner über Frankfurt und Zürich nach Italien und kommt über Padua nach Venedig. Dort denunziert ihn Zuane Mocenigo in einem Brief an den Inquisitor ob seiner "biastemia" (Lästerungen) der katholischen Kirche und ihrer Glaubenssätze. Bruno habe Christus als Schurken und Magier sowie alle Mönche als Esel bezeichnet, die Welt als ewig und das Universum als unendlich begriffen, die Transsubstantiation geleugnet und eine Sekte im Namen der Philosophie begründen wollen. Reinhardt ist voll zuzustimmen, dass unklar bleibt, wie viel davon tatsächlich zutraf oder der Phantasie des enttäuschten Gastgebers entsprang (248f.).

Nach Verhören in Venedig und längerem Hin und Her mit der Serenissima wird Bruno in den Kerker der Inquisition nach Rom überführt. Hier kommt es zu einem fast sieben Jahre andauernden Prozess, der schlussendlich das bekannte Ende nimmt.

Reinhardt präsentiert die Hinrichtung, sicherlich zu Recht, als Justizmord und gegenreformatorisches Exempel Clemens' VIII. für das Heilige Jahr 1600. Bruno weigert sich, von seinen Thesen abzukehren und - was als sicher belegt gilt - wendet sich knapp vor der Hinrichtung noch von einem ihm zugestreckten Kruzifix verächtlich ab. Worte kann er hier nicht mehr äußern, denn die Zunge war abgebunden. Der Epilog überblickt noch knapp die Rezeption Brunos, der erst seit dem 20. Jahrhundert positiver und als Freigeist bewertet wird. Ein Anhang, der neben einem kommentierten Quellen- und Literaturverzeichnis eine Karte der Lebensstationen, eine Zeittafel und ein Personenregister umfasst, rundet das Ganze ab.

Die Ausführungen Reinhardts stützen sich vor allem auf die venezianischen Verhörprotokolle, die erst unlängst für die Forschung zugänglich wurden. Die römischen Protokolle gingen eventuell nicht ohne das Wissen der Kurie im Nachklang Napoleonischer Wirren verloren (287f.). Interpretative Kommentare Reinhardts verweisen wiederholt auf die aus der Quellengattung resultierende Subjektivität, die jedoch Einblicke in die Selbstdarstellung eines ums Überleben kämpfenden Brunos sowie die Nachforschungsarbeiten der Inquisition liefern. Trotz eines Minimalangebots an Referenzen schafft es Reinhardt, einen Einblick in die Forschungslandschaft zum Thema zu bieten, nicht zuletzt durch die kluge Kommentierung von Quellenverzeichnis und Bibliografie.

Der Nolaner erscheint als vielschichtige und ehrgeizige Person, der es an Pragmatik fehlte, um in seiner Zeit zu überleben. Der Autor spart auch nicht an Kritik am Protagonisten, seiner "maßlose[n] Selbstverherrlichung" und gnadenlosen Direktheit, und entgeht der Versuchung, die Hinrichtung allzu dramatisch und ausschweifend zu beschreiben. Am Ende der Lektüre scheint es fast so, als ob gerade der äußere Umstand der rastlosen Suche Bruno radikalisierte und an seinen Thesen festhalten ließ.

Die Monografie brilliert durch treffsichere und vielfach humoristische Seitenhiebe auf das Zeitgeschehen und ob der Aktualitätsbezüge in Brunos Thesen, wenn sich etwa der Genfer Calvinismus als vermeintliches Versprechen intellektueller Freiheit entlarvt oder die "Speichellecker" im Universitätssystem angeprangert werden. Bloß das generische Maskulinum müsste nicht auch noch 2024 zum Einsatz kommen. Ein einziges Mal wird gegendert, bei den "HistorikerInnen" von heute (116). Mit Ausnahme Elisabeths I. von England erscheinen Frauen vornehmlich als passive Objekte der Begierde und Kurtisanen. Dies mag jedoch aus den inhaltlichen Grenzen der Verhörprotokolle beziehungsweise der Selbstdarstellung Brunos resultieren.

Sprachlich ist das Werk ansonsten ein Fest, liest sich streckenweise wie ein Roman und wird sicherlich ein weit über die fachlichen Grenzen hinausreichendes Publikum für die Frühe Neuzeit begeistern. Es wäre allerdings an der Zeit, eine Reinhardtsche Biografie einer Frau zu widmen.

Rezension über:

Volker Reinhardt: Der nach den Sternen griff. Giordano Bruno. Ein ketzerisches Leben, München: C.H.Beck 2024, 352 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-81362-7, EUR 29,90

Rezension von:
Doris Gruber
Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Empfohlene Zitierweise:
Doris Gruber: Rezension von: Volker Reinhardt: Der nach den Sternen griff. Giordano Bruno. Ein ketzerisches Leben, München: C.H.Beck 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/09/38959.html


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