sehepunkte 24 (2024), Nr. 9

Maria Ciesielska: The Doctors of the Warsaw Ghetto

Das Chemisch-Bakteriologische Institut im Warschauer Ghetto erstellte zwischen dem 7. Juli und 31. Dezember 1941 86 Inhaltsanalysen des im Ghetto verfügbaren Brotes. In etwa der Hälfte der Proben fanden sich bedenkliche Stoffe, wie Talkpulver, Magnesium, Kalk und Larven (141). Die Ghettoinsassen konnten die katastrophale Qualität der von den deutschen Besatzern stets in zu geringen Mengen ins Ghetto gelieferten Lebensmittel nicht beeinflussen. Wie die Analyse jedoch zeigt, produzierten die Mitarbeiter:innen des Instituts valides Wissen über die Missstände und analysierten diese. Ebenso führten Ärzt:innen im Ghetto klinische Studien zu Hunger- und Typhuserkrankungen durch, die den Gesundheitszustand der Menschen dokumentierten und Behandlungsmethoden erprobten.

Maria Ciesielska verweist mit ihrer Studie, die 2017 auf Polnisch erschien und in der englischsprachigen Fassung von Jeanette Friedmann, Tali Nates und Luc Albinski lektoriert und bearbeitet wurde, ähnlich wie bereits Miriam Offer [1], auf die Bedeutung der gesundheitlichen Versorgung zur Organisation des Lebens im Ghetto. Sie nimmt Strategien und Handlungschancen der im Ghetto eingesperrten Mediziner:innen in den Blick. In ihrer chronologisch aufgebauten Studie untersucht Ciesielska unter Einbeziehung von Tagebüchern, Zeitschriften, Archivquellen und von Berichten Berufskarrieren jüdischer Ärzt:innen, ihre berufliche Tätigkeit sowie das Gesundheitswesen in Warschau. Der Untersuchungszeitraum beginnt zur Zeit der Zweiten Polnischen Republik, legt einen Schwerpunkt auf die Zeit unter deutscher Besatzung - vor allem ab November 1940, als das Ghetto abgeriegelt wurde - und endet mit dem Ghetto-Aufstand im April 1943 sowie der anschließenden vollständigen Liquidierung des Ghettos.

Ärzt:innen gehörten vor dem Krieg zur gesellschaftlichen Elite. Gerade in den größeren Städten wie Lodz oder Warschau war etwa die Hälfte der Ärzteschaft jüdisch. Eine medizinische Versorgung der Bevölkerung war ohne sie nicht möglich. Dennoch waren sie wie die gesamte jüdische Bevölkerung insbesondere ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre antisemitischer Diskriminierung ausgesetzt. Sie erfuhren Ausgrenzungen durch die Studierendenorganisationen und die Ärzteverbände. Einige Ärzt:innen entschieden sich daher, zum Christentum zu konvertieren. Mit Beginn des deutschen Überfalls meldeten sich viele Ärzt:innen, jüdische wie christliche, zur polnischen Armee. In Warschau leisteten die jüdischen Krankenhäuser einen wichtigen Beitrag zur Versorgung der polnischen Zivilbevölkerung wie auch der verwundeten Soldaten. Entgegen den in der Genfer Konvention getroffenen, von Deutschland ratifizierten Regelungen beschoss die deutsche Luftwaffe allerdings auch die Kliniken, zerstörte Gebäude und tötete Angestellte und Patienten. Nach der Einnahme Polens trieben die nationalsozialistischen Besatzer eine rassische Segregation der Bevölkerung energisch voran. Jüdische Krankenhäuser und Ärzt:innen durften ab März 1940 nur noch jüdische Patient:innen behandeln. Jüd:innen wurden aus der Ärztekammer ausgeschlossen, die von Jost Walbaum, dem sogenannten Gesundheitsführer im Generalgouvernement, geleitet wurde. Als "jüdisch" klassifizierte Ärzt:innen, darunter auch diejenigen, die zum christlichen Glauben konvertiert waren, mussten sich in einer gesonderten Ärztekammer zusammenschließen. Die Gesundheitsabteilung des im Oktober 1939 eingesetzten "Judenrates" hatte die medizinische Versorgung der jüdischen Bevölkerung zu organisieren und die Krankenhäuser zu betreiben. Möglich war dies lediglich durch die Unterstützung der 1921 in Polen gegründeten jüdischen Wohlfahrtsorganisation Towarzystwo Ochrony Zdrowia Ludności Żydowskiej w Polsce (TOZ) sowie des international operierenden Jewish Joint Distribution Committee.

Infolge der dramatischen Hygiene- und Ernährungssituation in Warschau, hervorgerufen durch die Kriegshandlungen, brachen immer wieder Infektionskrankheiten aus. Im September 1940 forderte die deutsche Gesundheitsverwaltung, die jüdische Bevölkerung Warschaus in einem Ghetto zu isolieren. Als Begründung wurde angeführt, dass eine Ausbreitung von Epidemien, vor allem von Fleckfieber, das die deutschen Besatzer diskursiv eng mit Jüd:innen verknüpften, innerhalb der als "arisch" betrachteten Bevölkerung verhindert werden solle. [2] Im Oktober 1940 musste die gesamte jüdische Bevölkerung, etwa 450000 Menschen, in das im Stadtteil Muranów errichtete Ghettogebiet umsiedeln. Rund 1000 Ärzt:innen arbeiteten im Ghetto, schätzt die Verfasserin (240). Sie waren in der Gesundheitsabteilung des "Judenrates", in Kliniken, Notfallambulanzen und in freier Praxis tätig. Im Mittelpunkt der Studie stehen das Czyste-Krankenhaus und das Bersohn-Baumann-Kinderkrankenhaus; beides Kliniken, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts gegründet worden waren und im Ghetto weiterbestanden.

Ärzt:innen im Ghetto waren mit ethisch-moralischen Konflikten konfrontiert, zum Beispiel wer die knappen Ressourcen, wer eine Behandlung erhalten sollte, oder der Entscheidung, für die jüdische Polizei zu arbeiten. Durch die Arbeit bei der Polizei konnten die Ärzt:innen ihre eigene Situation verbessern und ihr Überleben sichern, unterstützten aber zugleich die deutschen Besatzer und halfen mitunter bei der Durchführung der Deportationen in die Vernichtungslager. Als eine Form des Widerstandes beschreibt Ciesielska die Einrichtung einer medizinischen Hochschule und einer Krankenpflegeschule im Untergrund. Über 40 Professoren und Dozenten unterrichteten etwa 500 Studierende an der Untergrunduniversität. 30 Studierende und Ärzt:innen untersuchten im Rahmen der "Hunger-Studie" die Auswirkungen der Hungerkrankheit auf Kinder und Erwachsene. Die nach Kriegsende publizierten Ergebnisse stellten eine wichtige Grundlage zur Behandlung Hungernder dar.

Rund zwölf Prozent der im Ghetto registrierten Ärzt:innen überlebten den Zweiten Weltkrieg. Die vergleichsweise hohe Überlebensrate verdeutlicht, wie die Verfasserin betont, dass Ärzt:innen im Ghetto eine privilegierte Gruppe darstellten. Durch ihre berufliche Tätigkeit verfügten sie über ein Einkommen und erhielten teilweise gesonderte Zuteilungen von Nahrungsmitteln und Alkohol durch die deutschen Behörden oder auch durch Kontakte zu deutschen Ärzt:innen, Informationen über bevorstehende Deportationen, die es ihnen erlaubten sich selbst und Angehörige in Sicherheit zu bringen. Über diese Privilegien verfügten sie allerdings nur, solange sie für die Bekämpfung von Infektionskrankheiten von den deutschen Gesundheitsbehörden gebraucht wurden (239).

Von den Ärzt:innen, die im Warschauer Ghetto arbeiteten, kann Ciesielska 831 namentlich identifizieren. Ein Verdienst der Studie ist es, diese Namen sowie grundlegende biografische Angaben und teilweise Fotos zusammenzustellen und damit für weitere Forschungen verfügbar zu machen. Auf ein Verzeichnis der verwendeten Quellen und der Literatur verzichtet sie allerdings. Unscharf bleiben die deutsche Besatzungspolitik sowie Tätigkeiten und Funktionen der NS-Ärzte der Gesundheitsabteilung des Generalgouvernements und des Gesundheitsamtes der Stadt Warschau. Zu ihren Aufgaben gehörte die Kontrolle und gesundheitliche Beaufsichtigung des Ghettos. Ciesielska legt ihren Fokus vielmehr auf die Perspektive jüdischer Ärzt:innen sowie einzelner Krankenpfleger:innen und Pharmazeut:innen, ihre Tätigkeiten, Erfahrungen und Deutungen. Sie zeigt detailliert und eindrücklich, wie Ärzt:innen unter den von den deutschen Besatzern geschaffenen Bedingungen von Mangel, Hunger und Gewalt bis hin zu Deportation und Mord eine medizinische Versorgung der jüdischen Bevölkerung und damit das Leben im Ghetto organisierten, ja Überleben - zumindest temporär - ermöglichten. Mit ihrem Blick auf jüdische Ärzt:innen im Warschauer Ghetto kann Ciesielska Forschungslücken beseitigen und erschließt bislang unbekannte, vor allem polnische Quellen.


Anmerkungen:

[1] Miriam Offer: White Coats in the Ghetto. Jewish Medicine in Poland during the Holocaust, Yad Vashem 2020.

[2] Vergleiche Paul Weindling: Epidemics and Genocide in Eastern Europe, 1890-1945, Oxford 2000.

Rezension über:

Maria Ciesielska: The Doctors of the Warsaw Ghetto. Translated from the original Polish by Agata Krzychylkiewicz, Boston: Academic Studies Press 2022, XXIV + 403 S., ISBN 978-1-64469-725-2, USD 129,00

Rezension von:
Wiebke Lisner
Hannover
Empfohlene Zitierweise:
Wiebke Lisner: Rezension von: Maria Ciesielska: The Doctors of the Warsaw Ghetto. Translated from the original Polish by Agata Krzychylkiewicz, Boston: Academic Studies Press 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/09/39563.html


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