Jan Foitzik (Hg.): Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand. Politische, militärische, soziale und nationale Dimensionen, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2001, 393 S., ISBN 978-3-506-72590-5, EUR 51,60
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Jan Foitzik legt hier einen der wichtigsten Beiträge zur Nachkriegsgeschichte des Ostblocks seit dem Fall der Mauer vor. In einer auf Archivquellen in sechs Ländern gestützten Artikelsammlung untersuchen führende Experten aus Deutschland, Tschechien, der Slowakei, Polen, Ungarn und Russland die Krise, die den sowjetischen Machtbereich nach Stalins Tod erschüttert hat. Besonderes Augenmerk wird auf die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik sowie auf die sowjetisch-ostmitteleuropäischen Beziehungen gelenkt, aber der reichhaltige Band gibt auch über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte dieser Zeit Aufschluss. Besonders instruktiv und innovativ erscheint die Inbetrachtnahme der DDR, die oft von Osteuropahistorikern als angeblich irrelevant übersehen wird. Der Herausgeber gibt in seiner Einleitung eine anregende Übersicht; weitere Angaben enthält die ausführliche Bibliografie, mit vielen allgemeinen Informationen zu speziellen Themen für Leser, die mit dem Gesamtkomplex noch nicht vertraut sind.
Der Band enthält zwölf Beiträge, die meist nach Ländern gegliedert sind. Die Frage nach dem sowjetischen Einfluss auf die Entwicklungen in Osteuropa wird in jedem Beitrag zumindest indirekt aufgegriffen, mehrfach steht sie aber auch ausdrücklich im Mittelpunkt des Interesses, so in den Beiträgen zu Ungarn von Istvan Vida und zu Polen von Alexander M. Orechow sowie in der bemerkenswerten Dokumentensammlung samt Einführung über den "KGB und die Errichtung des Kadar-Regimes" von Jelena D. Orechowa, Vjačeslav T. Sereda, und Alexander S. Stykalin. Zusammengenommen stellen diese Beiträge einleuchtende Bewertungen der neuesten Ergebnisse der Forschung dar.
Der aufschlussreiche Aufsatz Orechows ("Die polnische Krise 1956 aus Moskauer Sicht") erinnert an die eigentümliche Wahrnehmung ostmitteleuropäischer Realität durch sowjetische Diplomaten. Beispielsweise wurde die bunte intellektuelle Landschaft Polens hauptsächlich nach Treue zu "leninistischen Positionen" beurteilt und die Quelle von gesellschaftlicher Unzufriedenheit eher im Einfluss "bürgerlicher Ideologie" als in der sozialen Realität des Landes gesucht. Hierin sieht der Rezensent auf Grund eigener Forschungen einen Unterschied zu den Mitteilungen sowjetischer Gelehrter nach Moskau in jenen Jahren, die wesentlich differenzierter ausfielen und oftmals zu Mäßigung rieten.
In der Dokumentensammlung erfährt man weitere interessante Einzelheiten über zum Teil bereits bekannte Sachverhalte, zum Beispiel die Rolle Titos bei der Wahl Kadars als Regierungschef während der Beratungen in Moskau am 2. November 1956. Kadar bleibt nach wie vor eine der rätselhaftesten Personen der europäischen Zeitgeschichte: Durch die Berichte des KBG-Chefs I. A. Serow erfahren wir von seinen mannigfaltigen Bemühungen in den Novembertagen, die Lage zu entspannen, beispielsweise durch Proteste gegen die weitere Beschäftigung von Stalinisten in der ungarischen Staatssicherheit oder gegen die Verhaftung und Verschleppung von ungarischen Staatsbürgern in die Sowjetunion. Dann lesen wir aber auch in einer Fußnote von seiner Einwilligung zur Entführung Imre Nagys. Solche Schizophrenie war nicht auf die Person Kadars beschränkt; in einem Bericht Serows, der die durch ihn selbst gutgeheißenen Repressionen gegen Teilnehmer des Aufstandes beschreibt, erklärt er die Flucht vieler Ungarn nach Österreich: "Das Hauptmotiv für die Flucht ist die von Feindpropaganda aufgestellte Behauptung von der bevorstehenden Bestrafung der am Aufstand Beteiligten" (374).
Andrzej Paczkowski stellt Überlegungen zur Rolle des polnischen Sicherheitsapparates in der Krisenzeit an. Sein Beitrag bildet die detaillierteste Behandlung dieser Frage, die bisher in einer westlichen Sprache erschienen ist. Der Autor zeigt überzeugend, dass trotz Tauwetter die Bierut-Führung in den Jahren 1953-55 vor allem die Perfektionierung der Überwachung anstrebte, möglichst innerhalb einer durchaus stalinistisch verstandenen "Gesetzlichkeit". Indes liest man interessante Details zur Reorganisation des Apparates: Mitarbeiter durften nicht mehr foltern, auch wurden sie nicht angehalten, möglichst schnell Geständnisse herbeizuführen, und ihr berufliches Fortkommen hing nicht mehr von der Anzahl der durch sie Inhaftierten ab. Die Geschichte des Dienstes war von den allgemeinen Entwicklungen nicht zu trennen in einer Zeit, als die "Welle der Angst vor Bespitzelung abebbte" (179). Unter massivem Druck wurde er verkleinert und geschwächt, aber, so der Eindruck des Lesers, kaum reformiert.
Die Rolle der Armeen in Ungarn, Polen und der ČSR wird in diesem Band als nicht maßgebend für die Krisensituation dargestellt. In Ungarn (Miklos Horvath) hat die überwältigende Mehrheit in den Streitkräften der zweiten sowjetischen Intervention gegenüber keinen Widerstand geleistet. 75-80% der Offiziere unterschrieben eine Resolution, in der sie ihre Treue zur von Janos Kadar geführten Regierung kundtaten. Die polnische Armee (Leszek Pajorek) wurde nicht so auf die Probe gestellt; mutmaßlich wären die polnischen Streitkräfte gespalten worden, falls es zu militärischen Auseinandersetzungen gekommen wäre. Verständlicherweise wurde die Treue der tschechoslowakischen Armee (Jan Staigl) am wenigsten durch die Ereignisse des Jahres 1956 erprobt; aus Angst vor einem etwaigen Übergreifen der Unruhen aus Polen oder Ungarn hat man davon abgesehen, 34 000 Soldaten in die Reserve zu entlassen; man hat auch die Grenzen zu den Nachbarn fester zu sichern gesucht. Bitten um Unterstützung seitens moskautreuer ungarischer Grenzverbände in ihren Kämpfen gegen Aufständische wurde nicht entsprochen.
Mit dem Komplex gesellschaftlicher Wandel und politische Krise beschäftigen sich die Beiträge der Autoren Burkhard Ciesla, Stefan Wolle (beide zur DDR), Jindřich Madry (ČSR), Paweł Machcewicz (Polen) und György T. Varga (Ungarn). Als einziger geht Ciesla den wirtschaftlichen Ursachen der krisenartigen Situation des Jahres 1956 nach und weist auf einige generelle Faktoren hin - anhaltende Bevorzugung der Schwerindustrie (auch nach den "Kurskorrekturen" des Jahres 1953), fehlender Konkurrenzdruck und sich daraus ergebende Rückständigkeit gegenüber dem Westen, Ressourcenmangel, anhaltende Mängel des planwirtschaftlichen Systems. Gleichzeitig deutet der Autor auf Gründe für das Ausbleiben landesweiter Unruhen in der DDR im Jahre 1956 hin: Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung im Vergleich zu den frühen Nachkriegsjahren, sinkende Preise, Lohnerhöhungen, Zunahme des Pro-Kopfverbrauches, hohe Ausgaben für gesundheitliche Betreuung. Als eher DDR-spezifisch kann die offene Grenze zum Westen gelten, die als Ventil zur Abwanderung der Unzufriedenen funktionierte. Ciesla ignoriert aber auch nicht die Rolle des starken Willens der Parteiführung, die sich etwa in konsequenter Schaffung neuer Eliten sowie Strukturveränderungen zu Gunsten des einfachen Arbeiters im Betrieb sowie dem Ausbau des Sicherheitsapparates äußerte.
Anhand der Berichte des Staatssicherheitsdienstes untersucht Wolle näher die Unruhen, die die DDR in Folge des XX. Parteitages ergriffen, vor allem in Betrieben und Universitäten. Das Ausmaß von Streiks und Demonstrationen scheint, angesichts der späteren ziemlich reibungslosen Abrechnung der SED mit "Gegnern", erstaunlich. Den Erfolg des Regimes bei der Unterdrückung der Opposition schreibt er vor allem dessen "Unnachgiebigkeit" zu, aber wie Ciesla erwähnt Wolle auch die lebendige Erinnerung an den 17. Juni 1953, die nachhaltig Abschreckungswirkung zeigte. Ähnlich findet Madry die Hauptursache für das Unterbleiben größerer Unruhen in der ČSR in der Stärke und Geschlossenheit der kommunistischen "Funktionärsgarde". Auch dort habe es heftige Diskussionen gegeben, obwohl die Unzufriedenheit nie die Angehörigen der Betriebe oder Universitäten mobilisiert habe.
Die massenhaften Unmutsausbrüche des Jahres 1956 in Polen werden von Machcewicz fast als selbstverständlich hingenommen. Ihn interessiert eher die Frage, weshalb es im Oktober dieses Jahres nicht zu antikommunistischen Ausschreitungen kam. Schließlich zeigt seine detaillierte Rekonstruktion der Unruhen vom Juni in Posen den wichtigen Platz von anti-sowjetischen und anti-kommunistischen Stimmungen in der Bevölkerung. Im Gegensatz zur gängigen Historiographie erachtet Machcewicz das gemäßigte Auftreten des polnischen Volkes im Herbst nicht als Lehre, die aus dem Blutvergießen bei der ungarischen Revolution gezogen wurde, vielmehr hebt er die Person Gomułkas hervor, der als nationaler Retter angesehen wurde. Konstant in dieser Sichtweise bleibt die treibende Kraft des polnischen Nationalismus.
Wie haben die neu gewonnenen Informationen aus bisher verschlossenen Archiven unsere Sicht auf die Krise im Ostmitteleuropa der 1950er-Jahre geändert? Auf diese Frage gibt der Band keine generelle Antwort, und dies liegt wohl vor allem daran, dass die Autoren kaum den Versuch unternehmen, das bisherige Geschichtsbild zu präzisieren. Zwar werden oft Einzelinformationen aus der Literatur gezogen, die vor 1989 erschienen war, aber nirgends wird genau gefragt, was man damals schon wusste. Ohne eine Antwort auf diese Frage kann man logischerweise kaum versuchen, Lücken im damaligen Geschichtsbild zu schließen, geschweige denn neue generelle Interpretationen zu entwerfen. Wie der Kommunismusforschung der Zeit vor 1989 oft vorgeworfen wird, die Zukunft nicht vorhergesehen zu haben, so könnte man ihr jetzt vorhalten, die eigene Vergangenheit allzu schnell vergessen zu wollen.
Konsultiert man ältere Standardwerke zur Geschichte dieser Zeit, so entdeckt man beinahe die gleichen Interpretationen der in diesem Band beschriebenen Dynamik, zwar ohne diese Detailfülle, doch es ist erstaunlich, wie wenig die Archivdokumente die überlieferte Sichtweise in Frage stellen. Derartige hier als Novum vorgestellte Tatbestände, wie die überragende Wichtigkeit Gomułkas, die Unfähigkeit der Planwirtschaften, zu intensivem Wachstum überzugehen, oder die Schlüsselrolle der Parteikader bei der Unterdrückung der Reformbewegungen in der ČSR und der DDR - all dies wurde bereits vor Jahren, manchmal schon Jahrzehnten, analysiert und beschrieben.
Doch man kann diese Art von Kritik auch zu weit treiben. Schließlich wirft dieser Band - gelesen vor dem Hintergrund einer breiteren Literatur - eine Reihe interessanter Fragen auf, die über den Rahmen des Herkömmlichen hinausgehen. Dies trifft vor allem auf den tschechoslowakischen Fall zu, der vergleichsweise wenig erforscht ist. Madrys Versuch etwa, das Ausbleiben einer gesamtgesellschaftlichen Gärung in der ČSR zu erklären, offenbart sich beim näheren Hinsehen als eine Frage: "Nach Mobilisierung der KPTsch-Funktionärsgarde, die sich der Kritik an Stalin zum großen Teil nicht angeschlossen hatte, wurde die ganze Gesellschaft von einer kämpferischen, kompromisslosen bis feindseligen Haltung des Parteiapparats gegenüber Andersdenkenden beherrscht" (233). Wenn man bedenkt, dass über zwei Millionen Tschechoslowaken der KPTsch angehörten, so erhebt sich von selbst die Frage, wie genau die Parteiführung diese Mobilisierung durchführen konnte. Auch passt der tschechische Fall gar nicht in Foitziks Erklärungsmuster für die Stabilisierung der "sozialen und politischen Konglomerate" (52), nämlich "massive externe Intervention". Ähnlich entpuppen sich Feststellungen zum ungarischen Fall als Fragen, wenn es beispielsweise heißt: "Seit Oktober 1954 belebte sich auch das öffentliche Leben, vor allem durch die Tätigkeit von Journalisten und Schriftstellern" (73). Doch wie - durch welche Zusammenhänge von politischer Opportunität, revisionistischer Gärung, volkswirtschaftlicher Krise - passierte dies im einzelnen? Der Herausgeber bringt den weitergehende Einsichten versprechenden Ansatz auf folgenden Nenner: "Als zentraler Ursachenkomplex läßt sich allgemein der Widerspruch zwischen Herrschaft und Gesellschaft bestimmen" (54).
John Connelly