Gregor Schöllgen: Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin / München: Propyläen 2003, 175 S., ISBN 978-3-549-07205-9, EUR 18,00
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Die Frage, wie die "neue deutsche Außenpolitik" der rot-grünen Bundesregierung mittel- und langfristig zu bewerten ist, scheidet in Deutschland seit geraumer Zeit die Geister. Während einige das neue außenpolitische Selbstbewusstsein der Bundesregierung optimistisch begrüßen, warnten Andere bereits früh vor riskanten Konsequenzen, die der tiefe Bruch mit den traditionellen Leitlinien der bundesrepublikanischen Außenpolitik nach sich ziehen könnte.
Gregor Schöllgen, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen, gehört eindeutig in die erste Kategorie. Sein Buch "Der Auftritt", das den vielsagenden Untertitel "Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne" trägt, erzählt die Geschichte der deutschen Außenpolitik vom Fall der Mauer im Herbst 1989 bis zum Ende des Irakkrieges im Frühsommer 2003. In sechs Kapiteln schildert Schöllgen zunächst die Ausgangsbedingungen für einen außenpolitischen Neubeginn. Anschließend beschreibt er die Phase deutscher Orientierungs- und Hilflosigkeit angesichts der wachsenden globalen Herausforderungen und endet mit der Darstellung des "deutschen Weges", auf welchem Schröder das Land "gleichsam über Nacht in die Rolle der europäischen Gegenmacht zu den Vereinigten Staaten manövrierte".
Die wesentlichste Stärke von Schöllgens "Auftritt" besteht darin, dass er auf die veränderten Rahmenbedingungen für die Neuorientierung der deutschen Außenpolitik gekonnt hinweist. Konnte die alte Bundesrepublik Deutschland im Windschatten des Kalten Krieges unbeschadet prosperieren und gewisse Nischen der Internationalen Politik nutzen, so wird Deutschland seit Beginn der Neunzigerjahre schneller als erwartet gezwungen, europapolitische und weltpolitische Verantwortung zu übernehmen. Wenn, so Schöllgen, "die außenpolitische Tradition der rheinischen Republik an die spezifischen Konstellationen des Kalten Krieges gebunden" gewesen sei, so sei es auch "konsequent", dass man sich von dieser Tradition angesichts der neuen weltpolitischen Lage verabschiede. Schöllgen thematisiert kontroverse Fragen: Wie soll sich Deutschland angesichts der neuen amerikanischen Tendenz zum Unilateralismus positionieren? Welche Rolle sollen die Deutschen künftig auf der Weltbühne spielen? "Wann, mit welchen Mitteln und unter welchen Bedingungen, gegebenenfalls auch mit welchen Verbündeten, wollen sie in welchen Regionen einschreiten, um für ihre eigene Hemisphäre Frieden, Freiheit und Wohlstand zu sichern"?
Deutschland müsse sich emanzipieren - so lautet der Tenor seiner Darstellung. Die Außenpolitik der alten Bundesrepublik sei bis zum Ende des Ost-West-Konflikts fast vollständig von der Kooperation mit den Bündnispartnern, vor allem mit den USA, abhängig gewesen, doch seit der Vereinigung 1990 habe sich Deutschland zu einem souveränen Nationalstaat "mit dem Potenzial einer europäischen Großmacht" entwickelt. Geostrategisch, wirtschaftlich und militärisch habe, so Schöllgen, vieles darauf hingedeutet, dass sich die Position Deutschlands im internationalen System infolge der Zeitenwende maßgeblich verändern werde. Dennoch sei es den Deutschen auf Grund ihrer starken europäischen und atlantischen Vernetzung in den 90er-Jahren zunächst schwer gefallen, eine an den eigenen potenziellen Interessen und Machtressourcen orientierte Außenpolitik zu verfolgen. Vor allem der Einsatz militärischer Mittel blieb vor dem Hintergrund der militärischen und moralischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges ein Tabu. Folglich blieb die deutsche Sicherheitspolitik im Laufe der Neunzigerjahre zögerlich und auf den NATO-Rahmen und Europa konzentriert. Erst Gerhard Schröder wählte eine neue selbstbewusste außenpolitische Gangart, "die an diejenige der Staats-, beziehungsweise Regierungschefs von Frankreich und Großbritannien erinnerte". Als erster deutscher Kanzler habe er die deutschen Interessen in Europa wieder stärker zur Geltung gebracht und vor allem den USA die Stirn geboten, "als er in der Irak-Krise klarstellte, die deutsche Außenpolitik werde in Berlin, und das hieß im Kanzleramt, gemacht".
Zusammenfassend gelangt Schöllgen zu der Erkenntnis, die Regierung Schröder/Fischer betreibe eine neue deutsche Außenpolitik mit steil angestiegenem Gestaltungswillen und neuem Selbstbewusstsein. Dieses, laut Schöllgen, emanzipatorische Moment wurde vor allem im Zuge des Irakkrieges deutlich. Die deutsche Außenpolitik habe während der Irakkrise "endgültig zu den Gegebenheiten der neuen Weltordnung aufgeschlossen und die Rolle auf der Weltbühne akzeptiert, die dem Land als Folge der weltpolitischen Umbrüche seit Anfang der Neunzigerjahre zugefallen war". Durch den radikalen Bruch mit den alten Traditionslinien bundesrepublikanischer Außenpolitik habe das Land letztendlich "zu sich selbst gefunden".
In seinem "Auftritt" gibt Schöllgen in weiten Teilen die offizielle außenpolitische Sichtweise der Berliner Republik wider, die vermutlich von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen wird. Das ist allerdings noch kein Beweis für ihre Richtigkeit, die sich erst im zeitgeschichtlichen Abstand zeigen wird. Aber schon heute deutet sich an, dass die Außenpolitik der Berliner Republik nicht überall zu überzeugen vermag. Steht Deutschland die "Rolle der europäischen Gegenmacht zu den Vereinigten Staaten" tatsächlich gut zu Gesicht? Oder wäre in der Irakkrise nicht mehr Zurückhaltung, Bescheidenheit und nüchternes Interessenkalkül wichtiger gewesen als öffentliche Moralpredigten? Gereicht der demonstrative Schulterschluss mit Frankreich und zeitweilig mit Russland, die beide eigene Interessen im Irak verfolgten, tatsächlich einer deutschen Interessenlage, aber auch einer abgestimmtem europäischen Position zum Vorteil?
Auch wenn der "deutsche Weg" im Vorfeld des Irakkrieges sich heute als mutiger erweist, als damals angenommen, und sich viele Bedenken der Bundesregierung mit Blick auf Irak leider bewahrheitet haben, so verharmlost Schöllgens "Auftritt" grundlegende Fehler, Schwächen und Versäumnisse deutscher Außenpolitik, vor allem spart er unangenehme Entwicklungen weitgehend aus: Die temporäre Gegenmachtbildung gemeinsam mit Paris und Moskau blieb erfolglos. In der UNO stellte sich Deutschland von Anfang an ebenfalls ins handlungspolitische Abseits und in Europa gefährdete Berlin Deutschlands ausgleichende Rolle mit Blick auf London, Paris und Washington und damit seine traditionelle Mittlerrolle und sein Eintreten für ein atlantisch ausgerichtetes Europa. Auch eine gemeinsame europäische Position wurde durch Berlins schroffe Diplomatie nicht gerade begünstigt. Hier hätte Deutschland in der Tat, durchaus mit klug formulierter Kritik gegenüber Washington, eine ausgleichendere, d.h. vermittelndere Position beziehen können und sich damit bei Allen Respekt verschafft. Die grundsätzliche Beeinträchtigung des außenpolitischen Handlungsspielraums hat jedoch innenpolitische Gründe, die bei Schöllgen völlig zu kurz kommen: Deutschland muss den Aufbau Ost, den Umbau des Sozialstaates und die Reform des Arbeitsmarktes bewältigen, das heißt die fehlende innerstaatliche Konsolidierung beeinträchtigt im hohen Maße auch außenpolitische Führungsambitionen. Vor allem fehlt wegen der anhaltenden Wachstumsschwäche die wirtschaftliche Dynamik, was den Handlungsspielraum der deutschen Außenpolitik deutlich begrenzt. Die immer größer werdende Lücke zwischen ambitionierten außenpolitischen Zielen und fehlenden ökonomischen Fähigkeiten verleiht einem sogenannten weltpolitischen Auftritt Deutschlands einen peinlichen Anstrich. Vor allem leidet unter dieser Diskrepanz die klassische deutsche Führungsrolle bei der Integration Europas. Unter der Regierung Schröder hat sich das Bild Deutschlands vom integrationspolitischen Vorbild zum kranken Mann Europas verändert. Auch die fatale Begünstigung eines zum Teil unreflektierten Antiamerikanismus, der bislang nur an den gesellschaftlichen Rändern Deutschlands zu beobachten war, nun aber die politischen Kreise in der Hauptstadt selbst erobert hat, ja, zum Teil unsichtbares Wasserzeichen der Berliner Politik geworden ist, hat Deutschlands Rolle gegenüber den USA verkompliziert.
Der von Schöllgen diagnostizierte Versuch, den deutschen Einfluss auf dem Wege einer Gegenmacht-Politik auszuweiten, scheint inzwischen selbst von den Regierenden in Berlin ad acta gelegt worden zu sein, denn die Bundesrepublik besitzt keine entsprechenden "harten" Machtressourcen, um auf Dauer ein Gegengewicht zu den USA bilden oder gar die Welt auf den rechten "deutschen Weg" führen zu können. Bei aller notwendiger Kritik an der Irakpolitik der USA darf nicht in Vergessenheit geraten: Strukturell und langfristig gesehen braucht Deutschland die Unterstützung Washingtons mehr, als dies umgekehrt der Fall ist.
Es stellt sich daher die Frage, ob Deutschlands Reaktion auf den zu Recht kritisierten "rüden Kommandoton" und die katastrophale Irakpolitik der USA als moralisierende Absage an "jedwede amerikanische Vormundschaftsabsicht" tatsächlich im deutschen Interesse war.
"Das Ende der transatlantischen Epoche", das Schöllgen für die nahe Zukunft prognostiziert, wäre vor allem für Deutschland eine Katastrophe, das seinen außenpolitischen Handlungsspielraum ein halbes Jahrhundert lang klug und interessengeleitet an der Seite der USA vergrößern konnte. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts liegt unser Ankerplatz, wenn auch derzeit in schwerer See, in der Mitte des Atlantiks, an der Schnittstelle westeuropäischer und nordamerikanischer Interessenlinien. Die Pflege der deutsch-amerikanischen Beziehungen ist und bleibt außenpolitisches Grundgesetz der Bundesrepublik, auch unter widrigen Bedingungen in Washington. Turbulenzen hat es seit den 50er-Jahren wiederholt gegeben, aber alle Bundesregierungen, von Adenauer bis Kohl, formulierten ihre Kritik an den USA geschmeidig, hinter verschlossenen Türen, um das wichtigste außenpolitische Interesse, gute Beziehungen zu Washington, als Grundvoraussetzung für deutschen Handlungsspielraum nicht zu gefährden.
Mit dem neuen außenpolitischen Auftritt mag sich eine Rückkehr auf die Weltbühne ankündigen. Aber mit moralisierendem Unterton nach dem Motto "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" wird sich die Bundesregierung Schröder/Fischer dort, wo es auch in Zukunft ankommt, wenig Freunde machen. Nachträglich Recht zu bekommen, mag befriedigend sein und ohne Zweifel hat die Regierung Schröder/Fischer vor dem fatalen Irakkrieg mit stichhaltigen Argumenten gewarnt, aber das undiplomatische Auftreten gegenüber Washington und die undurchdachte Gegenkoalitionsbildung gemeinsam mit Frankreich und Russland haben deutschen Interessen wenig genutzt. Man hätte sich gewünscht, dass Schöllgen auch auf die Schwachstellen und Ungeschicktheiten dieses Auftrittes stärker hingewiesen hätte.
Gleichwohl liest man sein Buch heute in der Distanz von einem Jahr mit Blick auf den Irakkrieg und mit Blick auf die deutsche Interessenstruktur mit größerem Gewinn und größerer Nachdenklichkeit als noch vor wenigen Monaten. Hierin liegt das Verdienst des Autors, wobei allerdings zu wenig über die Grenzen und Möglichkeiten eines dritten Weges jenseits amerikanischer Arroganz der Macht und deutscher Arroganz der Ohnmacht nachgedacht wurde.
Christian Hacke