Anne Dreesbach / Helmut Zedelmaier (Hgg.): "Gleich hinterm Hofbräuhaus waschechte Amazonen". Exotik in München um 1900, München / Hamburg: Dölling und Galitz 2003, 319 S., 30 Farb-, 111 s/w-Abb., ISBN 978-3-935549-77-6, EUR 24,80
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Der von Anne Dreesbach und Helmut Zedelmaier herausgegebene Sammelband ähnelt von der Konzeption her den kolonialen "Spurensuchen" von Berlin (2002) und Hamburg (1999), hat aber sonst wenig mit ihnen gemein. [1] Der Fokus dieses Buches richtet sich weniger auf die Bezüge Münchens zur deutschen Kolonialgeschichte - das Buch wäre auch deutlich dünner ausgefallen - als auf die Repräsentation von Exotik im Allgemeinen. Der Untersuchungszeitraum "um 1900" wird von den Autorinnen und Autoren, einer interdisziplinären Gruppe aus den Bereichen Geschichte, Kunst, Literatur-, Theater- und Tanzwissenschaft, auf die beiden Jahrzehnte jeweils vor und nach der Jahrhundertwende ausgedehnt. Dabei halten die meisten der hervorragend illustrierten Beiträge die Verbindung zur bayerischen Hauptstadt konsequent ein. Vier Themenkomplexe befassen sich mit "Jahrmärkten der Exotik", "Exotischem Wissen", "Exotischem Theater" und "Imaginationen der Exotik", wobei diese Überschriften einzig dem Inhaltsverzeichnis zu entnehmen sind.
Der Erkenntnisgewinn der einzelnen Aufsätze variiert stark. So zählt Anne Dreesbach in ihrem Beitrag über "Exotisches auf dem Münchner Oktoberfest zwischen 1890 und 1911" eine ganze Reihe von Attraktionen und Schaugeschäften auf, und doch lautet das wenig differenzierende Urteil am Ende: "Exotik war auf dem Oktoberfest überall zu finden" (32). Ihre Darstellung enthält jedoch interessante Details, die Nachfragen provozieren: Ein auf Seite 20 abgedrucktes Plakat der Firma Wilhelm Hagenbeck aus dem Jahr 1907 kündigt die "Grösste Raubtier-Dressur-Schau der Erde" mit 70 Eisbären an. Diese Zahlenangabe wird in der Bildunterschrift nicht in Frage gestellt. Ob überhaupt realistischerweise angenommen werden kann, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein reisender Schaubetrieb, auch wenn er Hagenbeck hieß, eine Tournee mit 70 Exemplaren des zweitgrößten Landraubtiers der Erde veranstaltet hat, scheint zumindest fraglich. Nach Auskunft des Hagenbeck-Archivs, das nach eigenen Angaben über keine Unterlagen zur genannten Veranstaltung verfügt, waren zwar zur fraglichen Zeit gerade Eisbären unter den gehaltenen Wildtieren zahlreich vertreten und eine große Anzahl von ihnen in einer Schau vorstellbar, mit der Zahl 70 dürfte es aber der Veranstalter aus Gründen der Werbewirksamkeit nicht so genau genommen haben. Es bedürfte weiterer Quellen oder eines Zoologen - und damit einer Ausweitung der interdisziplinären Arbeit -, um derartige Angaben ernsthaft zu überprüfen.
Aus den "Jahrmärkten der Exotik" hervorzuheben sind ferner die Ausführungen Martin Rühlemanns über das "Internationale Handels-Panoptikum", das von 1893 bis 1903 das erfolgreichste seiner Art in München war und "ein Bedürfnis der werdenden Großstadt" (36) nach neuen Formen der Unterhaltung befriedigte, wie sie bis dahin vor allem reisende Kuriositätenschauen stets nur für eine begrenzte Zeit geboten hatten. Neben publikumswirksam drapierten Wachsfiguren hielt das Panoptikum auch eine stattliche Sammlung an "Abnormitäten" bereit, worunter man beispielsweise präparierte Missgeburten und Körperteile mit Krankheitssymptomen verstand. Häufig wurden gleichsam als lebende Exponate Angehörige fremder Völker präsentiert. An der hierbei oft gezeigten Nacktheit nahm offenbar niemand Anstoß, ganz im Gegensatz zu den vorgeführten Filmen ohne exotischen Hintergrund, in denen leicht bekleidete Frauen zu sehen waren. Die in dieser Doppelmoral enthaltene Geringschätzung "exotischer" Menschen äußerte sich andernorts gar in Steinwürfen auf die Darsteller einer Völkerschau, wie Andrea Stadler in ihrem aufschlussreichen Beitrag zur Presseberichterstattung über derartige Veranstaltungen festhält.
In dem Themenkomplex "Exotisches Wissen" ist Sonja Wiegands Aufsatz zur Münchener Anthropologischen Gesellschaft besonders interessant, weil er mehrere Punkte miteinander verbindet, die auch in anderen Beiträgen aufgegriffen werden. Die in der Anthropologischen Gesellschaft vertretenen Wissenschaftler legten die gleiche Neugier an allem Fremdartigen respektive Exotischen an den Tag wie die Besucher der genannten Kuriositätenkabinette. Nicht nur, dass sie vielen Völkerschauen einen belehrenden Nutzen bescheinigten und ihnen damit unter anderem die Erlangung behördlicher Genehmigungen erleichterten, wobei ihnen im Gegenzug von den Veranstaltern die mitunter intime Untersuchung der "Exoten" eingeräumt wurde. Darüber hinaus zeigen Wiegands Ausführungen, wie weitgehend die Respektlosigkeit gerade der Wissenschaftler gegenüber den fremden Menschen war. Die Missachtung der Würde der von ihnen Untersuchten belegt zum Beispiel die heimlich vorgenommene Obduktion einer in München verstorbenen Afrikanerin, von deren Geschlechtsteilen Präparate angefertigt wurden. Die gleiche Gesellschaft hatte bereits zehn Jahre zuvor Vermessungen an einer in München auftretenden Gruppe von Feuerländern vorgenommen, wie Helmut Zedelmaier in einem anderen Beitrag anmerkt.
"Exotisches Theater" wurde, nach den Untersuchungen von Andreas Englhart, auf Münchens Bühnen erst nach der Jahrhundertwende in nennenswertem Umfang gespielt. Er untersucht die Inszenierungen von "Salome" und "Turandot" im Münchner Schauspielhaus und thematisiert dabei den Reiz des Unbekannten und vermeintlich Gefährlichen, der durch die weiblichen Darstellerinnen verkörpert wurde. Diese Femmes fatales hätten auch die Kolonien personifiziert, die nach dem zeitgenössischen Verständnis nur auf ihre Eroberung warteten. Der Tod der "Exotinnen" stehe schließlich für den Triumph über das Fremde und für seine Einhegung, die etwa in Deutsch-Südwestafrika in Form der rassistischen "Eingeborenenverordnungen" angestrebt worden sei. Allerdings wurden diese nach 1915 in deutlich anderer Form von der Südafrikanischen Union weitergeführt und nicht nur von "den Buren" (182), was so auch nicht bei dem zitierten Jürgen Zimmerer - nicht Zimmer - zu lesen ist. Parallel zu anderen Autoren im vorliegenden Band betont auch Englhart, dass die Nacktheit der Darstellerinnen von Opern oder Theaterstücken mit exotischem Bezug kaum als anstößig empfunden wurde. Treffend formuliert er, dass "mittelbar das Exotische die Bewertung des Erotischen deutlich beeinflusste" (179).
Der letzte Themenkomplex des Buches widmet sich den "Imaginationen der Exotik". Hier sei vor allem auf Florian Neumanns Befund hingewiesen, der sich mit Exotik in der Literatur am Beispiel der Schriftsteller Stefan George und Max Dauthendey befasst. Sie hätten mit ihren Schilderungen ferner Länder das gesteigerte Bedürfnis des Bürgertums nach exotischen Erfahrungen und "gesellschaftlicher Exklusivität [...] im Zeichen des Orientalismus" (222) befriedigt. Neumann beschreibt interessante Besonderheiten beider Autoren; so verstand der weit gereiste Dauthendey es in seinen indischen und japanischen Märchen durchaus, einer "fremden Wirklichkeit" (230) gerecht zu werden, womit die von ihm beschriebene Exotik weniger verfälscht daherkam. Für das lesende Bürgertum allerdings machte es offenbar keinen Unterschied, ob ein Autor seine Inspiration selbst nur aus Büchern bezog oder die von ihm beschriebenen exotischen Welten aus eigener Anschauung kannte. Gleichsam als Kontrast zur Literatur widmet sich der letzte Beitrag des Themenblocks von Albert Ottenbacher dem Zusammenhang von "Kino und Exotik". Einmal mehr wird die Doppelmoral der Sittenwächter deutlich, die pikante Darstellungen streng zensierten und doch bei exotischen Bezügen immer wieder Ausnahmen machten. Ottenbacher verweist nebenbei auf eine frappierende Parallele zur Gegenwart: Kameramänner, die seit etwa 1900 europäische und amerikanische Armeen begleiteten, hielten während des Boxeraufstands die Enthauptung chinesischer Kriegsgefangener filmisch fest. Ansonsten jedoch fühlt man sich in Ottenbachers Ausführungen bald verloren, weil zu viele verschiedene Themen ohne Übergang aneinander gereiht werden. Außerdem fallen einige sprachliche Anachronismen auf: So ist vom "Herero- und Hottentottenfeldzug" (286) die Rede oder von einem "Bikinitop" (293), das es 1914 noch nicht gab.
Das Buch richtet sich mit seiner Konzeption und Themenauswahl an ein breiteres Publikum, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort betonen. Bei der Gestaltung der thematisch höchst unterschiedlichen Beiträge ist dies zwar nicht immer gelungen. Dagegen reicht der Erkenntnisgewinn mehrfach über den Münchner Kontext hinaus. Eine Einleitung oder Zusammenfassung, die sich noch einmal allgemeiner mit dem Begriff "Exotik" auseinandergesetzt hätte, wäre allerdings von Vorteil gewesen, um die verschiedenen Themen miteinander zu verklammern.
Anmerkung:
[1] Ulrich van der Heyden / Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002; Heiko Möhle (Hg.): Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika - Eine Spurensuche in Hamburg, Hamburg 1999.
Jens Ruppenthal