Bernhard Maaz: Sinnlichkeit und Kunst. Der Wertewandel des 19. Jahrhunderts, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2004, 135 S., 59 Abb., ISBN 978-3-422-06459-1, EUR 14,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Jacob Wamberg (ed.): Art & Alchemy, Kopenhagen: Museum Tusculanum Press 2006
Burcu Dogramaci / Karin Wimmer (Hgg.): Netzwerke des Exils. Künstlerische Verflechtungen, Austausch und Patronage nach 1933, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2011
Beat Wyss: Vom Bild zum Kunstsystem, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2006
Bernhard Maaz: Das gedoppelte Museum. Erfolge, Bedürfnisse und Herausforderungen der digitalen Museumserweiterung für Museen, ihre Träger und Partner, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2019
Bernhard Maaz: Vom Kult des Genies. David d'Angers' Bildnisse von Goethe bis Caspar David Friedrich, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2004
Bernhard Maaz (Hg.): Adolph Menzel. radikal real, München: Hirmer 2008
Im 19. Jahrhundert, einer Zeit heftiger Umbrüche und Widerstände, die auch in den Künsten ausgetragen wurden, standen die bildende Kunst und ein allgemeiner Wertewandel in enger Beziehung zueinander. Bernhard Maaz, Kustos an der Alten Nationalgalerie in Berlin, hat mit diesem Buch sowohl ein Essay zur Kunst des 19. Jahrhunderts verfasst, als auch eine material- und assoziationsreiche kulturgeschichtliche Studie zu der Zeitspanne zwischen Vormärz und Kaiserreich vorgelegt. Das Kunstwerk, dessen Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte Maaz untersucht, ist die 1844-1848 in Berlin vom Bildhauer Theodor Erdmann Kalide geschaffene Bacchantin auf dem Panther. Dieses Kunstwerk, das entwicklungsgeschichtlich zwischen den Berliner Plastiken von Schadow, Rauch und Begas einzuordnen ist und stilistisch zwischen Klassizismus und Neubarock steht, wird als eine extreme Möglichkeit der Berliner Kunst des 19. Jahrhunderts bewertet. Die Debatten und Auseinandersetzungen um dieses Kunstwerk dienen dem Autor zur Betrachtung und Bewertung von Grundkonflikten in der Kunst dieser Zeit.
Maaz gelingt es, ausgehend von einer singulären Skulptur, die sozialen und gesellschaftspolitischen Implikationen für die Kunst des 19. Jahrhundert aufzuzeigen. Kalides Bacchantin, die zu den Werken einer freien, nicht auftragsgebundenen Skulptur gehörte, wurde bereits zu ihrer Entstehungszeit als Kunstwerk eines epochalen Umbruchs verstanden, in dem sich eine künstlerische Revolution andeutete. Das Jahr der Entstehung dieser Skulptur war ein sozial unruhiges Jahr, in dem fundamentale Gesellschaftskritik herauf wuchs und die Revolution von 1848 sich bereits ankündigte. Sensibilisiert durch das geistige Klima des Jahres 1844 erfassten die Zeitgenossen das Revolutionierende der Bacchantin. Die Kunstkritik sah in ihr den Vorboten einer beginnenden Liberalisierung. Dies mag erklären, warum die Skulptur, als sie auf der Berliner Akademieausstellung 1848 gezeigt wurde, von den Rezensenten verschwiegen wurde. Drei Jahre später, auf der Weltausstellung in London 1851 kam es zu einer gleichen Reaktion. Diese erste, von Preußen reichlich beschickte Weltausstellung wartete mit zahlreichen Kunstwerken deutscher Künstler auf, zu denen auch Kalides Skulpturen gehörten. Während man ausführlich über Kalides zweite Skulptur, den Knaben mit dem Schwan, der ebenfalls in London ausgestellt war, berichtete und der Künstler für dieses Werk sogar eine Preismedaille bekam, schwieg sich die Kunstkritik über Kalides Bacchantin aus. Für den Zeitraum der Weltausstellung hatte man die Skulptur in den Londoner Ausstellungshallen in eine halbdunkle Seitengalerie verbannt, um sich ihrer Anstößigkeit zu entledigen. Dies hatte weitreichende Konsequenzen für den Künstler, dessen schleichende Demontage bald darauf begann. Dieser Prozess wird von Maaz sehr genau analysiert und er kommt zu dem Ergebnis, dass sich Kalide mit diesem Werk, das die konventionelle ethisch-moralische Vorbildhaftigkeit im Sinne der Weimarer Klassik und ihrer Traditionen entbehrte, der bürgerlichen Tugenden der Selbstbeherrschung und Keuschheit entledigt zu haben schien. Seine These begründet der Autor damit, dass die weiblichen Aktfiguren in der Regel noch bis ins 19. Jahrhundert die Ideale der Selbstbeherrschung, Ruhe, Empfindsamkeit und emotionalen Selbstkontrolle verkörperten. Die sozialen Leitbilder des 19. Jahrhunderts - so lehrt uns Maaz - predigten der Frau Tugendhaftigkeit, Zurückhaltung, Selbstaufgabe und Mäßigung. Diese ans Maßhalten appellierende Temperantia wurde von Kalide im Werk der Bacchantin zu Gunsten einer sinnlichen Komposition verworfen. Als Kalides Modell 1844 erstmals öffentlich präsentiert wurde, war die lebensgroße Marmorfassung bereits bestellt. Sein Schwager Franz von Winckler (1803-1851) hatte sie in Auftrag gegeben, um ein Werk zu besitzen, dass der berühmten Ariadne auf dem Panther von Johann Heinrich Dannecker ebenbürtig wäre und mit dem er sich, ähnlich wie deren Besitzer, der Frankfurter Bankier Simon Moritz von Bethmann, als Kunstfreund ausweisen könnte. Der Auftraggeber hatte Kalide bei der Auftragsausführung alle Freiheiten gelassen und auf die Gestaltung der Bacchantin nicht eingewirkt. Nun jedoch war er, so schildern es die Quellen, von der sinnlichen Konkretheit in Marmor überrascht, überwältigt und entsetzt. Die natürliche Gelassenheit, in der Kalide Mensch und Tier in bildhauerischer Manier gleichberechtigt miteinander verzahnte, empörte ihn.
Die Haltung einer innig verschwisterten Gruppe aus Menschenleib und Tier war für die Kunstgeschichte völlig neu, hatte aber Bezüge zu antiken Darstellungsweisen. Zwar stand Kalides Skulptur thematisch keineswegs alleine, denn gerade in dieser Zeit - seit der Mitte des 19. Jahrhunderts - gab es eine vom Zeitgeist veranlasste Häufung bacchischer Themen, sie war jedoch hinsichtlich der formalen Behandlung singulär. Die Tradition der Bildhauerkunst, wie Maaz sehr anschaulich beschreibt, gebot die Einhaltung eines gewissen Regelkanons, zu dem gehörte, dass der Kopf als Sitz des edlen Geistes das buchstäblich Höchste des Menschen ausmache. In Kalides radikaler Komposition wurden diese körperlichen Hierarchien zu Gunsten einer dynamischen Bewegungshaltung verworfen. So erscheint es noch aus heutiger Sicht unglaublich gewagt, wie Kalide die Bacchantin und den Panter zueinander geordnet hatte, oder besser gesagt: gegeneinander aus der Ordnung gebracht hatte. Diese Unordnung, das wird in der vorliegenden Studie durch einen Vergleich mit anderen thematisch verwandten Skulpturen gezeigt, war Kalides Kunstgriff. Die Anzüglichkeit, die sich aus der Konstellation einer nackten Frauenfigur auf einem Panter ergab, hatte für den Künstler jedoch weit reichende gesellschaftliche Folgen. In der zeitgenössischen Kritik wurde betont, dass verwegen war und gebremst werden musste, wer die körpersprachlichen Normen der Wohlanständigkeit verletzte.
Da nicht nur die moralische, sondern auch die politische Brisanz von Kalides Werk erfasst wurde, verhinderte die Skulptur letztendlich die weitere Karriere des Künstlers. Als Theodor Erdmann Kalide in Berlin das Modell der Bacchantin ausstellte, war er bereits 43 Jahre alt. Er hatte sich, so erläutert Maaz, in den Berliner Werkstätten von Gottfried Schadow und Christian Daniel Rauch bereits bevorzugt mit dem Thema der Tierplastik befasst. Noch bis in die 1820er-Jahre präsentierte er, den Konventionen verpflichtet, auf den Berliner Akademieausstellungen zahlreiche kleinformatige Werke mythologischen und historischen Inhalts. Nachdem er Anfang der 1830er-Jahre eine eigene Werkstatt gegründet hatte, stellte er seine Werke in Berlin als selbstständiger Bildhauer aus. Bekannt wurden vor allem einige seiner Schöpfungen aus dieser Zeit, etwa die lebensgroße genrehafte Gruppe eines Knaben mit Schwan von 1834 oder das kniende Mädchen mit Harfe von 1838. Den Zugang zum preußischen Hofe und bald auch zu auswärtigen Höfen, also zur wichtigsten Auftraggeberschicht, hatte sich der Künstler durch diese ersten Arbeiten sichern können. Die Ausführung der marmornen Bacchantin - so zeigt uns Maaz in seinen Ausführungen - sollte für Kalide mehrere Funktionen zugleich erfüllen. Mit diesem Werk wollte der Künstler einen Ausweis all seiner bildhauerischen Fähigkeiten liefern, um in den Kreis der nobelsten akademischen Künstler Preußens, ja Deutschlands, eintreten zu können. Aber er irrte: seine konsequente, kompromisslose künstlerische Individualität führte ihn zu einem erzwungenen Verzicht auf institutionelle Sicherheiten. Ziel und Weg führten nicht zusammen.
Im letzten Teil seines Essays zeigt Maaz, dass die Idee revolutionierender Körper- und Sinnlichkeit in einen weiten Kontext eingebettet werden kann. Die antisinnlich-klassizistische Position stand in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht unwidersprochen im Raum. 1843, ein Jahr vor dem Modellentwurf von Kalides Bacchantin, verwarf Ludwig Feuerbach in den Grundzügen der Philosophie der Zukunft Hegels Vernunfterkenntnis zu Gunsten eines "radikalen Sensualismus". Sein philosophischer Vorstoß und Kalides künstlerische Grenzaufhebung verliefen frappierend parallel. Maaz folgert hieraus, dass Feuerbachs Philosophie und sein Atheismus um 1850 von Kalide nicht nur wahrgenommen, sondern auch künstlerisch rezipiert und umgesetzt wurde.
Das deutsche Publikum war in der zweiten Jahrhunderthälfte primär geschult Historienbilder zu "lesen", sich Genrebildern zu widmen oder Landschaften zu genießen. Es war hingegen kaum gewohnt, solch eine radikale Körpersprache, wie sie Kalide seinen Zeitgenossen vorführte, zu dechiffrieren. Diese Irritation, die dem Künstler mit seiner Bacchantin gelang, setzte sich bis ins 20. Jahrhundert fort. Maaz, der sich abschließend mit den weiteren Debatten um die Skulptur befasst, stellt fest, dass die künstlerischen Kontroversen um moralische Fragen im späteren wilhelminischen Deutschland geradezu mit einer pathologischen Intensität noch einmal geführt wurden. Es gelingt dem Autor mit seiner sehr anschaulichen Studie aufzuzeigen, dass die Debatten um dieses Kunstwerk in den verschiedenen Zeitspannen auf eine Aufrechterhaltung wertkonservativer Moralvorstellungen zielten und in einen Gesamtdiskurs zur Festigung wankender Staatssysteme eingebunden werden konnten.
Nicola Hille