Dierk Hoffmann / Michael Schwartz (Hgg.): 1949-1961 Deutsche Demokratische Republik. Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus (= Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945; Bd. 8), Baden-Baden: NOMOS 2004, XII + 1007 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-7890-7327-4, EUR 149,00
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Der ostdeutsche Weg zur Sozialstaatlichkeit stand in der Spannung zwischen Kontinuität der deutschen Entwicklung seit den 1880er-Jahren und Diskontinuität zur NS-Sozialpolitik wie zur westdeutschen Sozialstaatsvariante sowie der Anlehnung an das sowjetische Modell. Diese komplexe Sozialstaatsgeschichte liegt nun als Band 8 der Reihe "Geschichte der deutschen Sozialpolitik seit 1945" vor. Er erscheint vor den Bänden drei und vier, die den vergleichbaren Zeitraum für die Bundesrepublik abdecken sollen.
Dierk Hoffmann und Michael Schwartz, zwei ausgewiesene Historiker des Instituts für Zeitgeschichte, die mit eigenen umfangreichen Forschungen zur Sozialgeschichte der DDR zwischen Staatsgründung und Mauerbau hervorgetreten sind, haben diesen Band herausgegeben. Sie leiten mit zwei Aufsätzen über die politischen Rahmenbedingungen und die sozialpolitischen Handlungsfelder ein. Der erste beschränkt sich hinsichtlich der politischen Linien besonders auf Überblicks- und Gesamtdarstellungen und erhebt keineswegs den Anspruch auf einen Gesamtüberblick zur seit dem Beginn der Neunzigerjahre schlagartig vergrößerten Forschungslage. Der zweite konzentriert sich auf Grundlinien der DDR-Arbeitsgesellschaft und zentrale sozialpolitische Gesetzeswerke der frühen DDR (besonders aus dem Jahr 1950 das Gesetz der Arbeit, das Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau sowie das Gesetz zur weiteren Verbesserung der Lage der ehemaligen Umsiedler). Hier findet sich bemerkenswerter Weise auch ein Kapitel über Kulturleben in der frühen DDR, das offiziell als Teil des Lebensstandards definiert wurde.
Im vorliegenden Band finden sich Aufsätze zu siebzehn Sachbereichen der sozialpolitischen Entwicklung von der Arbeitsverfassung, der Arbeitskräftegewinnung und -lenkung über das Gesundheitswesen, die Bildungspolitik, die Wohnungspolitik, die betriebliche Sozialpolitik bis zur internationalen Sozialpolitik.
So fasst beispielsweise Wera Thiel die arbeitsrechtlichen Kodifizierungen zusammen, deren Ziel eine Produktionssteigerung durch zentrale administrative Eingriffe war. Die Einführung eines Mindestlohns, die einkommensunabhängige Gewährung von Zuschlägen wie der Wegfall unterer Lohngruppen stärkten die soziale Grundsicherung und führten zugleich zu Disproportionen im Leistungsprinzip. Wenn auch der Spielraum für dezentrale Regelungen in den Arbeits- und Sozialbeziehungen sehr gering blieb, so erfuhr der Betrieb in den Jahren 1950 bis 1953 doch seine Ausprägung als soziale Institution, die neben erzieherischer auch konfliktregulierende Funktionen (Konfliktkommissionen seit 1953) erhielt. Der Vorrang der Produktivität ging auf Kosten des Arbeitsschutzes, wie Lutz Wienhold, selbst langjährig Beschäftigter im Zentralinstitut für Arbeitsschutz der DDR, betont. Die anfängliche verfassungsmäßige Verankerung des Arbeitsschutzes hatte eine rein legitimatorische Funktion im Wettbewerb mit dem Westen. Die Arbeitskräftelenkung, die Dierk Hoffmann beschreibt, litt bis zum Mauerbau nicht nur unter der Republikflucht, sondern auch an den Eigentümlichkeiten der Planwirtschaft. Hier horteten Betriebe Arbeitskräfte, die damit Globalsteuerungen (durch Lohn- und Gehaltsbewilligungen oder Wohnungsbau) teilweise entzogen wurden.
Das Kernziel der DDR-Sozialpolitik war die Arbeitsgesellschaft, worauf Schwartz und Hoffmann in ihrer Gesamtbetrachtung abheben. Die Zahl der Erwerbstätigen wurde zwischen 1952 (7,3 Millionen) und 1961 (7,8 Millionen) gesteigert, wesentlich aufgrund des Anstiegs der Frauenerwerbsquote. Die nichterwerbstätige Bevölkerung - vor allem alte Menschen, Behinderte - gehörte dabei auf die Verliererseite. Die durchschnittliche Sozialversicherungsrente betrug nur 27% des durchschnittlichen Bruttoarbeitseinkommens eines Vollbeschäftigten, was trotz aller sonstigen allgemeinen Vergünstigungen nur Not zu verhindern ausreichte. Die Rehabilitation wurde bei Schwerbeschädigten zum Normalfall erklärt. Wer hier herausfiel, dem blieb neben der Fürsorge durch die "Volkssolidarität" oft nur das Pflegeheim. Solche stationären Heime blieben trotz aller staatlichen, auf Entkonfessionalisierung setzenden Verdrängungsversuche eine Domäne der Kirchen, die bei der Aufrechterhaltung ihrer Trägerschaften in der "Sozialen Infrastruktur" (Olk) zudem auf Hilfe aus dem Westen rechnen konnten.
Die Weichenstellungen für den Abbau klassischer Sozialpolitikbereiche waren zwar noch vor der DDR-Staatsgründung gestellt, doch wirkten sie sich erst in den Jahren 1949 bis 1961 aus. Die Einheitssozialversicherung schluckte auch die Bereiche Versorgung und Fürsorge. Zentralisierung und Verstaatlichung auf der einen Seite sowie gesellschaftliche Nivellierung und gruppenspezifische Privilegierung auf der anderen Seite beschreiben wichtige Trends der DDR-Sozialpolitik. Bei NS-Opfern, Vertriebenen, Kriegsheimkehrern oder Bombengeschädigten wurde das 'bürgerliche' Entschädigungsprinzip fallen gelassen und stattdessen eine "permanente Soforthilfe mit Zügen einer sozialen Privilegierung" (821) verwirklicht.
Diese besaß zudem eine generationsspezifische wie geschlechtsspezifische Dimension. Die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Mutterschaft gehörte zu einem der Ziele, die bereits mit dem 1950 verabschiedeten "Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau" erreicht werden sollten. Dabei waren mit der Frauenemanzipation auch familien- und arbeitsrechtliche, bevölkerungs- und gesundheitspolitische Ziele verklammert. Ein restriktiveres Abtreibungsrecht (als zuvor in manchen Ländern), das die biologische Reproduktion sicherstellen sollte, stand zum Beispiel neben der selbstbestimmten Berufstätigkeit für Ehefrauen, denen gesundheitspolitische Fürsorge zugewandt wurde. "Der fördernde Aspekt dieser vielfach fordernden DDR-Frauenpolitik kam insbesondere der jungen Generation zugute" (812). Die Frauen- und Familienpolitik war neben der größere Chancengleichheit herstellenden Bildungspolitik ein Feld, das in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz propagandistisch immer wieder herausgestellt wurde, wenngleich der sozialpolitische Wettlauf mit der Bundesrepublik auf immer mehr Feldern verloren wurde.
Die Orientierung auf sowjetische Vorbilder in der Sozialpolitik war besonders in den Bereichen des Arbeitsrechtes, der Bildungspolitik und des Wohnungsbau sehr stark. Zugleich kann aber durchaus von deutscher Pfadabhängigkeit in den Bereichen Gesundheitswesen und Rentensystem gesprochen werden, wo sowjetische Modelle nur punktuell wirksam wurden. Dies sind nur wenige der detaillierten Ergebnisse des vorliegenden Handbuches.
Alle Beiträge sind auf breiter Quellengrundlage geschrieben. Die den Darstellungsbänden der Reihe zugehörigen Dokumentenbände erscheinen ab sofort nur noch als beiliegende CD-ROM. Auf der vorliegenden CD-ROM finden sich sowohl die 277 Dokumente des Bandes 2/2 (der als Printversion erschienen ist) wie auch die 224 Dokumente des Bandes 8 in chronologischer Ordnung. Alle Dokumente sind durch ein vorangestelltes Kopfregest eingeleitet, das auf die Institution beziehungsweise Personen, den jeweiligen Gegenstand und Ort wie Datum der Entstehung verweist. Die Dokumente sind nicht editorisch bearbeitet.
Durch Hinweise im Darstellungsteil auf die jeweilige Dokumentennummer ist eine Kontextualisierung aus dem jeweiligen Sachthema heraus möglich. Ein direkter Rückbezug der Dokumente auf den Text des Darstellungsteils ist ebenfalls gewährleistet, was auch den Zugang vom Dokument zum kommentierenden Text gewährleistet und damit einen zusätzlichen Zugang zum Text eröffnet. Dies bietet eine sehr gute technische Recherchemöglichkeit, über die sich jeder Benutzer nur freuen kann.
Abschließend lässt sich positiv resümieren, dass dieses Nachschlagewerk Zugänge aus unterschiedlichen Perspektiven auf die ostdeutsche Sozialpolitik 1949 bis 1961 ermöglicht. Dadurch auftretende Redundanzen sind den Autoren nicht anzulasten, liegen diese doch in der Konzeption der Reihe und sind bei einem solchen Großprojekt praktisch nicht auszuschließen. Letztlich ein gelungener Band, der nicht nur für die westdeutschen Parallelbände, sondern auch für die Folgebände der Reihe zur Beschreibung und Dokumentation der Geschichte der Sozialpolitik beider deutscher Staaten nur das Beste erwarten lässt.
Uwe Kaminsky