Gisela Schwarze (Hg.): Die Sprache der Opfer. Briefzeugnisse aus Rußland und der Ukraine zur Zwangsarbeit als Quelle der Geschichtsschreibung, Essen: Klartext 2005, 331 S., ISBN 978-3-89861-484-9, EUR 18,90
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Das besondere Schicksal der Heere sowjetischer Zwangsarbeiter im 'Dritten Reich' erregte in der deutschen geschichtswissenschaftlichen Fachwelt wie in der Öffentlichkeit erst mit erheblicher Verzögerung Aufmerksamkeit. Doch auch rund zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Spezialmonografie Christian Streits oder der Gesamtschau von Ulrich Herbert erweist sich das Thema als sperrig: Das musste auch Gisela Schwarze, die sich im Rahmen eigener Forschungen, seit Spätsommer 2000 dann im Auftrag der Münsteraner Dépendance des Vereins "Gegen Vergessen - für Demokratie" für intensive Kontakte zu ehemaligen Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen engagierte, erfahren. Ihr Anliegen ist es, der von ihr bei ihrer Tätigkeit in Deutschland erfahrenen Teilnahmslosigkeit und Ignoranz die Sicht der Opfer entgegenzuhalten. Zu diesem Zweck dokumentiert sie auf 250 Seiten eine Auswahl aus der Korrespondenz mit 340 Männern und Frauen aus dem heutigen Russland, der Ukraine und aus Lettland über ihre Zwangsarbeit in Münster. Dabei sei es dahingestellt, ob sich die von Schwarze angesprochenen Erfahrungen für Münster oder andere derartige regionale Initiativen verallgemeinern lassen. Ihre Vielfalt und Langlebigkeit - das früheste Besuchsprogramm dieser Art läuft in Köln mit Erfolg immerhin seit 1989 - und das insgesamt lebhafte Interesse auch in Münster (308 f.) scheinen dem zu widersprechen. [1]
Die Briefe berichten eindringlich über die einzelnen Etappen des Zwangseinsatzes sowjetischer Zivilisten: Von der Verschleppung, über den Transport nach Deutschland, die oft wie auf einem Sklavenmarkt erfolgte Zuteilung der Arbeitskräfte bis zu den Arbeits- und Lebensbedingungen im 'Dritten Reich'. Da Letztere eng miteinander verknüpft waren, macht es Sinn, die Schilderungen nach Arbeitsbereichen zu unterteilen: Im westfälischen Raum kamen die Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft, in Haushalt und Handwerk, im Textil- und Ledergewerbe, in Rüstungs-, Munitions- oder Flugzeugfabriken sowie im Bergbau zum Einsatz. Daneben wirft die Korrespondenz Schlaglichter auf die oft vernachlässigten Lager der Deutschen Arbeitsfront sowie die umfangreichen Arbeiten für die Reichsbahn, aber auch auf die Lebenswirklichkeit deutscher Bürger unter dem Hakenkreuz. Der totale Anspruch des Nationalsozialismus hatte sich in deren Umgang mit den "Ostarbeitern" zu beweisen. Dass neben Zeugnissen über nationalsozialistische Arbeitgeber einzelne Berichte über "anständige" oder "gute" Deutsche abgedruckt sind, verweist auf gesellschaftliche und private Handlungsspielräume im 'Dritten Reich'. Derlei alltagsgeschichtliche Ausdifferenzierungen können insgesamt einen genaueren Zugriff auf die Wirklichkeit von Tätern wie Opfern im 'Dritten Reich' ermöglichen; daher ist die Polemik Schwarzes gegen entsprechende Ansätze wenig nachvollziehbar (34).
In Münster wurden die aus der UdSSR Verschleppten von amerikanischen Truppen befreit. Die ließen es sich nicht nehmen, für die zahlreichen Kinder unter den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern eigene Schulen einzurichten. Die deutschen Behörden hatten (1944) insgesamt etwa 75.000 "Ostarbeiterkinder" registriert; heutige Interessenvertreter auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gehen von über 550.000 Betroffenen aus. Sie wurden entweder als kleine Kinder mit ihren Eltern gemeinsam deportiert oder erst in Deutschland geboren.
Generell kommen in dem Buch entsprechend dem späten Zeitpunkt der Befragungen vor allem junge Jahrgänge von Zwangsarbeitern zu Wort. Ihnen haben die Jahre in Deutschland tatsächlich die "Jugend geraubt", wie es vielfach heißt - die nachträgliche Wertung der Zwangsarbeit als eine "Art Abenteuer" (126) ist eine isolierte Stimme. Als betagte Rentner sind die Verschleppten heute den spät- und postsowjetischen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Verwerfungen in besonderer Weise ausgesetzt. Von daher lesen sich die Briefe zugleich als bestürzender Armutsbericht aus den entsprechenden Ländern. Die spärlichen Kompensationszahlungen der Bundesrepublik, die die Betroffenen erst nach langwierigen Prozeduren auch der eigenen Behörden erreichen, sind da wahrlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aus der Perspektive der Betroffenen stellt sich ihre Lebenssituation heute nahezu als Fortsetzung der negativen Erfahrungen nach der Repatriierung dar. Die "Heimat" behandelte die heimkehrenden Bürger mit Ver- und Missachtung. Der Zwangsaufenthalt in der Fremde wurde bis zum Ende der UdSSR sorgsam in den Papieren vermerkt, die stalinistischen Filtrationen wirkten in beruflichen u. a. Nachteilen weiter. Bis in die 1990er-Jahre hinein verschwiegen daher selbst Eheleute voreinander, dass sie als Kinder in Deutschland gewesen waren! (303)
Die doppelte Belastung der "Opfer zweier Diktaturen" (Pavel Poljan) war weit mehr als nur wirtschaftlicher Natur. Die gesundheitlichen Folgeschäden kommen in zahlreichen Briefen zur Sprache. Der jahrelange psychische Druck, den Verfolgung und Verschweigen mit sich brachten, lässt sich nur erahnen. Schwarze verweist in Anlehnung an die Beobachtungen Merridales über die russische Nachkriegs- und poststalinistische Gesellschaft zu Recht auf die monologisierende, mitunter monotone Berichterstattung der Betroffenen. Ihnen boten die Anfragen aus Deutschland ein Ventil, sie lösten zugleich aber auch lang unterdrückte Erschütterungen aus. [2]
Auf diese Weise bietet die Dokumentation eine wahre Fundgrube nicht nur für regionalgeschichtliche, sondern etwa auch für beziehungsgeschichtliche oder vergangenheitspolitische Forschungen. Angesichts dieses Eigenwerts der Briefe ist es bedauerlich, dass der Begleitkommentar im Detail und im Tenor oftmals unbefriedigend oder ungenau ist. Das beginnt schon mit der Erläuterung zum Titelfoto: Die bittere Armut etwa, in der die Heimkehrerin Feodosia Sokolova 1946 leben musste, erlebten auch Millionen nicht-deportierter sowjetischer Bürger. Schließlich erscheint, auch wenn man von argumentativen Sprüngen absieht (21, 24), der interpretative Rahmen Schwarzes, der recht holzschnittartig und unverbunden Kapitalismus-, Kolonialismus- und Patriarchatskritik aneinander reiht, wenig überzeugend. Versteht man Weltgeschichte als deskriptive Beschreibung von Gewalttaten, lässt sich natürlich eine Linie von den Hexenverbrennungen über Nationalsozialismus und Stalinismus bis hin zu fundamental-islamistischen Terrorattacken ziehen (13 f.). Damit begibt man sich allerdings wieder auf die überholte Suche nach der vermeintlich tiefen Grundidentität totalitärer Systeme (14), die bei genauem Hinhören in der Sprache der Opfer keinen Rückhalt findet.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Karola Fings (Hg.): Begegnungen am Tatort. Besuchsprogramme mit ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen. Ein Leitfaden, Düsseldorf 1998; NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln (Hg.): Jahresbericht 2003/2004, Köln 2005; Katharina Hertz-Eichenrode: "Ich hätte nichts dagegen, noch einmal nach Hamburg zu kommen". Erfahrungen aus dem Hamburger Besuchsprogramm für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, in: Zwangsarbeit und Gesellschaft, Bremen 2004, 180-185.
[2] Catherine Merridale: Night of stone. Death and memory in Russia, London 2000.
Andreas Hilger