George R. Whyte: The Dreyfus Affair. A Chronical History. Foreword by Sir Martin Gilbert, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2005, xxxiv + 526 S., ISBN 978-1-4039-3829-9, GBP 95,00
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Der von Whyte und einem Team von Mitarbeitern erarbeitete Band bietet, was der Titel verspricht: eine umfassende chronologische Geschichte der Dreyfus-Affäre in Form einer Zeitleiste mit z. T. sehr ausführlichen Einträgen. Die zentralen Prozesse beispielsweise werden Tag für Tag resümiert.
Die Darstellung beginnt 1789 mit der Französischen Revolution und enthält bis in die 1880er-Jahre vor allem Daten zur Biografie von Marie-Charles Ferdinand Walsin-Esterhazy und der Familie Dreyfus sowie zum Antisemitismus in Frankreich. Bis 1894 ist der einzige konkrete Bezug zur späteren Affäre die Entdeckung eines Dokuments, das von einem "D" als Verräter handelte. Dieses - vielfach später datierte - Beweisstück, ein vom französischen Geheimdienst abgefangener undatierter Brief des deutschen Militärattachés in Frankreich, Schwarzkoppen, an seinen italienischen Kollegen, war im Verlauf der Affäre von entscheidender Bedeutung, da es zu belegen schien, dass ein Mann, dessen Nachname mit "D" begann, als Spion tätig war.
Bekanntlich war das ein Missverständnis. Im Juli 1894 stellte sich Major Esterhazy 1894 der deutschen Botschaft in Paris als Spion zur Verfügung. Die Botschaft wurde freilich überwacht; ihr Abfall wurde von einer Putzfrau dem französischen Militär zugespielt. Im September 1894 enthielt der Müllsack einen von Hand beschrifteten Umschlag, in dem der Inhalt einer Sendung - geheime militärische Informationen - zusammengefasst wurde. Der Verdacht der Spionageabwehr fiel auf einen Artillerie-Offizier im Generalstab. Von Alphonse Bertillon, dem populärsten Kriminaltechniker seiner Zeit, durchgeführte Handschriftenvergleiche schienen Alfred Dreyfus als Autor zu identifizieren. Dass ein jüdischer Offizier aus dem Elsass Verrat begangen haben sollte, entsprach antisemitischen Vorurteilen in Öffentlichkeit, Militär und politischer Rechten, die fortan alles unternahmen, mittels gefälschter Dokumente einen Schuldspruch gegen Dreyfus zu erreichen und später, als die Fälschungen publik wurden, dessen Revision zu verhindern. Dieser Kern der Dreyfus-Affäre - vom ersten Prozess 1894 bis zur Rehabilitation 1906 - bildet den Schwerpunkt von Whytes Geschichte.
Der Prozess des Alfred Dreyfus wurde von einer Mantel- und Degen Geschichte zur Affäre, als die Manipulation des Prozesses immer mehr zum Testfall für die Existenz des Rechtsstaates in Frankreich, den Werten der Republik, dem relativen Gewicht rechter und linker Bewegungen wurde. Für die französische Linke wurde der Dreyfus-Prozess zu einer überpersönlichen Angelegenheit, und dasselbe galt für die Rechten und Antisemiten. Es war somit kein Zufall, dass die Durchsetzung der radikalliberalen Forderung nach einer kompletten Trennung von Kirche und Staat mit der lange hinausgeschobenen endgültigen Rehabilitation Dreyfus' zusammenfiel. Es war ebenso wenig zufällig, dass sich die überlebenden Dreyfus-Gegner nach 1940 dem Vichy-Regime zuwandten und Maurras seine Verurteilung nach Vichy als "Dreyfus' Rache" bezeichnete.
Allerdings wurde in der Affäre mehr verhandelt als französische Innenpolitik. Aus deutscher Sicht machte die Affäre auch eine Abkehr von einem internationalen militärischen Ehrenkodex deutlich, denn der deutschen Botschaft und Regierung blieb weitgehend schleierhaft, warum man Dreyfus trotz einer offiziellen Ehrenerklärung, er habe den Deutschen nie Informationen übermittelt, verurteilen konnte. (Es wurde gelegentlich sogar diskutiert, ob man nicht Esterhazy enttarnen sollte, um der Gerechtigkeit zu dienen.)
Der Band ist wie folgt gegliedert: Das zweite Kapitel widmet sich der Entstehung der Affäre: der Chronologie von Esterhazys Verrat, der Entdeckung der Spionage, der Identifikation von Alfred Dreyfus als Schuldigem, dem durch Fälschung und Geheimakten gekennzeichneten ersten Prozess und der Verurteilung Dreyfus'. Kapitel drei behandelt die Verschiffung Dreyfus' zur Teufelsinsel und die ersten Anfänge unabhängiger Untersuchungen bis 1896. Der vierte Teil umfasst die Identifikation von Esterhazy als (immer noch tätigem) Spion durch den neuen Chef der Spionageabwehr, Picquart, und die wachsende öffentliche Aufmerksamkeit bis Oktober 1897. Teil fünf beschreibt die Versuche hoher Offiziere und der Politik, die Untersuchung niederzuschlagen, die bis zum Prozess gegen Esterhazy erfolgreich waren und auch zur Inhaftierung Picquarts führten. Die Abschnitte sieben, acht und neun dokumentieren, wie sich Dreyfus' Schicksal wendete: durch die Aufnahme neuer Untersuchungen, der Anordnung eines neuen Kriegsgerichtsverfahrens in Rennes, das mit einem Schuldspruch, einer Begnadigung Dreyfus' und einer allgemeinen Amnestie endete; schließlich den Weg zum 1906 erfolgten Freispruch und der Rehabilitation von Dreyfus und Picquart.
Das letzte Kapitel behandelt die Jahre zwischen 1907 und 2006 in drei Perspektiven. Es geht erstens um die Biografie Dreyfus', seiner Familie, seiner Freunde und seiner Gegner; zweitens um die mediale Behandlung der Affäre, vor allem die Schwierigkeiten, unzensierte Kinofilme über Dreyfus in französischen Kinos zu zeigen; drittens die gegenwärtige Resonanz der Affäre, vor allem in den Hundertjahrfeiern.
Der chronologische Teil umfasst 340 Seiten; er ist reich illustriert mit Abbildungen der zentralen Dokumente, Portraits der beteiligten Personen, Karten und Skizzen, schließlich Reproduktionen von Zeitungen. Fast ebenso nützlich ist der Anhang mit ca. 100 Seiten (übersetzter und gekürzter) Originaldokumente, Kurzbiografien der beteiligten Personen und eine Bibliografie mit den wichtigsten Veröffentlichungen zur Affäre in allen Weltsprachen. Whyte, Vorsitzender der Dreyfus Society for Human Rights, geht es darum, die Affäre in den allgemeinen Kontext des Kampfes gegen Diskriminierung einzubetten; es ist kein Zufall, dass der Dokumentenanhang mit der Deklaration der Rechte des Menschen und des Bürgers beginnt. Tritt diese Kontextualisierung durch den Fokus auf die Ereignisse auch etwas zurück, so hat Whyte zweifellos das beste Nachschlagewerk zur Affäre vorgelegt und zudem auch ein Buch verfasst, was sich hervorragend für die Nutzung in entsprechenden Seminaren eignen dürfte - entsprechende Englisch- und mangelnde Französischkenntnisse vorausgesetzt.
Andreas Fahrmeir