Kontakte e.V. (Hg.): "Ich werde es nie vergessen". Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004 - 2006, Berlin: Ch. Links Verlag 2007, 270 S., ISBN 978-3-86153-439-6, EUR 19,90
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Im Zweiten Weltkrieg gerieten bis zu 5,7 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Von ihnen kam über die Hälfte ums Leben. Obwohl die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen zweifellos eines der deutschen Großverbrechen im Zweiten Weltkrieg darstellt, bleibt ihr Schicksal in der deutschen Erinnerungs- und Gedenkkultur seltsam marginalisiert. Darüber hinaus haben die ehemals kriegsgefangenen Rotarmisten und -armistinnen, denen der Nationalsozialismus explizit den völkerrechtlichen Status von Kriegsgefangenen verweigerte, von deutscher Seite bis heute keine offizielle Anerkennung als Zwangsarbeiter erfahren. Diese doppelte Vernachlässigung bildet einen Hintergrund für Aktivitäten des gemeinnützigen Vereins "Kontakte - Kontakty" mit Sitz in Berlin. Das "Bürger-Engagement für ehemalige Zwangsarbeiter und andere NS-Opfer in Osteuropa, die keine Leistungen von der Bundesstiftung 'Erinnerung, Verantwortung und Zukunft' erhalten können" (245), erbrachte in den Jahren 2004 bis 2006 über eine Million Euro an Spendengeldern. Mit der Hilfe von Partnerorganisationen in den Nachfolgestaaten der UdSSR konnten damit an 3400 ehemalige sowjetische Kriegsgefangene je 300 Euro ausgezahlt werden - als "Ausdruck der Scham über begangenes Unrecht" und als "Zeichen des Respekts", wie es im Begleitschreiben des Vereins an die Empfänger hieß (43). Im selben Schreiben baten die Initiatoren die ehemaligen Gefangenen um Berichte über ihre Gefangenschaft in Deutschland. Über eintausend dieser Antworten wurden ins Deutsche übersetzt, davon wiederum 60 Briefe für die vorliegende Edition ausgewählt. Auswahlkriterium waren "historische Relevanz" und das "Charakteristische" der Mitteilungen. Schreiben überlebender jüdischer Kriegsgefangener und gefangener Rotarmistinnen sind wegen ihrer Seltenheit auch unabhängig von diesen Grundsätzen aufgenommen worden. Aufgrund früher Schwerpunkte der Vereinsaktivitäten stammt die Mehrzahl der abgedruckten Briefe aus der Ukraine.
Die Briefe werden durch knappe Skizzen über deutsche Kriegsgefangenen- und Vergangenheitspolitik, über das deutsche Kriegsgefangenenwesen in der Ukraine und über die sowjetische Repatriierungspolitik eingeleitet. Unterschiedliche Angaben über die Gesamtzahl sowjetischer Gefangener in deutscher Hand - sie variieren in der vorliegenden Ausgabe zwischen 5,7 und 6,2 Millionen - sind nur ein Beispiel für den mitunter heute noch sehr unbefriedigenden Forschungsstand (11, 22): So lassen sich über 60 Jahre nach Kriegsende viele der von den Briefschreibern genannten Lagerorte noch immer nicht einwandfrei ermitteln oder organisatorisch zuordnen (z. B. 61). Daneben deutet der Beitrag von Grigorij Golysch auf die Langlebigkeit auch sowjetischer Stereotype im Umgang mit dem Phänomen der Kriegsgefangenschaft hin: Dass sowjetische Soldaten mehrheitlich erst "nach einer Verwundung" gefangengenommen wurden (23), reproduziert vermutlich eher alte Defensivstrategien der späteren Repatrianten gegenüber ihrer misstrauischen Gesellschaft und Staatsführung, als dass es die Realität der frühen Umfassungsoperationen der Wehrmacht widerspiegelt. Die Verknüpfung gegenwärtiger und vergangener Anliegen bzw. Perspektiven durchzieht im Übrigen auch die Briefe selbst. Die Unzufriedenheit mit der aktuellen (ukrainischen) Versorgungslage, nostalgische Erinnerungen an die Rote (bzw. Sowjetische) Armee, hohes Lob für die Chruščev'sche Destalinisierung in der Repatriantenbehandlung, andererseits die Durchdringung von Kriegserinnerungen mit überkommenen, stalinistisch eingefärbten Schilderungen der vermeintlich "verräterischen" Krimtataren (198, 203-206) machen viele Briefe nicht nur zu einer Quelle für sowjetische Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, sondern auch zum Zeugnis sowjetischer Geschichtspolitik schlechthin. Daneben belegen die Schreiben mitunter das individuelle Kommunikationsbedürfnis der ehemaligen Gefangenen, viel häufiger aber ihre dankbare Akzeptanz des humanitären Engagements der heutigen deutschen Briefpartner. Dieser humanitär-gesellschaftlichen Dimension widmen sich abschließend kurze Auswertungen der Korrespondenz durch die Mitherausgeber. Das Bild der Deutschen, das sich in den Briefen niederschlägt, muss zwangsläufig "kontrastreich" bleiben. Der entsprechende Artikel von Hilde Schramm (255-261) verweist auf die Handlungsspielräume der "ganz normalen" Deutschen in Lagerleben und Arbeitseinsatz zugunsten sowjetischer Kriegsgefangener zurück. Diese Spielräume, das ist ein bedrückendes Fazit der Briefe, blieben offenbar häufig ungenutzt, wenn es um das Wohl der Gefangenen ging: Die Jahre bis 1945 waren für sie eine reine Leidenszeit.
Generell lassen die Berichte "von unten" keinen Zweifel daran, dass das Massensterben der gefangengenommenen Rotarmisten nicht Folge der großen Zahl von Kriegsgefangenen, sondern Ergebnis der nationalsozialistischen Kriegsziele war. Darüber hinaus erlauben derartige Quellen endlich tiefere Einblicke in die Lagergesellschaften. Sie geben Hinweise auf das oftmals vom Hunger diktierte Verhältnis untereinander oder auf die begrenzte, doch wichtige Unterstützung durch Gefangene anderer Nationalitäten (94f., 130). Die Berichte deuten auf den hohen Widerstandswillen von Gefangenen hin, die fliehen konnten und sich sofort Partisanenverbänden anschlossen (54, 63f.). Und sie zeigen schließlich moralische, psychologische und physische Verheerungen, die Stalins repressive Politik und ihre post-stalinistischen Ausläufer gegenüber den ehemaligen Kriegsgefangenen anrichteten. Fedor Michailovič Solovev, der fast fünfjährige Gefangenschaft und Fron hinter sich hatte, bestraften Stalins Richter mit einer fünfzehnjährigen Haftstrafe, die Herr Solovev teilweise in Vorkuta verbüßen musste.
Die bittere Erfahrung der Überlebenden mit dem Stalinismus ist aber nur ein Teil der historischen Realität. Die Briefe führen eindrücklich vor Augen, dass sich viele Heimkehrer - wie Veteranen der Armee oder verschleppte Zwangsarbeiter - weiterhin mit den furchtbaren Folgen deutscher Kriegs- und Besatzungspolitik konfrontiert sahen. So kehrte nicht nur Fedor Ivanovič Černjak 1945 in eine Wüste zurück: "Das ganze Dorf war niedergebrannt, fast alle Einwohner erschossen (220 Menschen)" (102). Hinzu kamen langfristige gesundheitliche Folgeschäden, die sich angesichts der Finanznöte vieler sowjetischer Nachfolgestaaten selbst heute kaum abmildern lassen. Die gesammelten Briefe belegen damit eindringlich die besondere Zusammenballung von leidvollen Erfahrungen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, die das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener im 'Dritten Reich' und danach kennzeichnete. Angesichts dieser Biografien kann beim Leser nur ein bedrücktes Unbehagen über die erwähnte, "unebene" deutsche Erinnerungslandschaft zurückbleiben.
Andreas Hilger