Ala Al-Hamarneh / Jörn Thielmann (eds.): Islam and Muslims in Germany (= Muslim Minorities; Vol. 7), Leiden / Boston: Brill 2008, XX + 596 S., ISBN 978-90-04-15866-5, EUR 139,00
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Das vorliegende Buch ist ein Standardwerk für all diejenigen, die sich mit den unterschiedlichen Entwicklungen des Islams in Deutschland und mit den hier lebenden Muslimen, ihrer Organisiertheit und Interaktion beschäftigen. Es ist gleichsam eine Momentaufnahme von Einzelaspekten muslimischer Realitäten, die über die Dynamiken von Debatten, Selbstverständnissen und Konzepten unter Mehrheitsgesellschaft und Muslimen in Deutschland Aufschluss gibt, und damit ein Werk, dass auch noch in Jahren seine Wichtigkeit als ein Baustein für das Verständnis von Islam in Deutschlands behalten wird.
Viel ist in jüngster Zeit über Islam und Muslime in Deutschland im Zuge von Debatten über Integration, innere Sicherheit und deutsche "Leitkultur" geschrieben worden. Doch steht die öffentliche Präsenz des Themas in einem disproportionalen Verhältnis zu wissenschaftlichen Publikationen, die sich diesem Thema in seinem Facettenreichtum wissenschaftlich fundiert und dennoch umfassend annähern. Zwar haben in jüngster Zeit zahlreiche Wissenschaftler gute Einzelstudien vorgelegt, doch spiegeln die bislang bekannten Überblicksdarstellungen diesen Wissensstand nur unzureichend wieder.
Der vorliegende Sammelband wagt genau diesen großen Wurf und versammelt 24 Autorinnen und Autoren unterschiedlicher wissenschaftlicher Herkunftsdisziplinen, deren einzelne Beiträge folgende Themenfelder behandeln: Rahmenbedingungen muslimischer Lebenswelten, Islam und soziale Praxis, islamische Gemeinschaften und Identität, Kulturproduktion muslimischer Migranten, Medienkonsum, -produktion und -repräsentation, Gender und Wirtschaft. Die Beiträge sind in ihrer Mehrheit empirisch und geben zumeist die Ergebnisse von Forschungen wieder, zu denen die Verfasser auch Monographien verfasst haben; oder sie sind erste Erkenntnisse laufender Projekte.
Genau hierin liegen die Stärken und Schwächen des Sammelbandes. Auch mit der Vielzahl der Beiträge sind bei weitem noch nicht alle Themen abgehandelt, die den öffentlichen Diskurs dominieren und nicht alle wichtigen Gruppen (Sufis, Konvertiten, Verbände etc.) und Themen können abgehandelt werden. Doch sind sich die Herausgeber dessen zum einen bewusst und Jörn Thielmann thematisiert dies in seiner Einleitung, zum anderen ist der wissenschaftlich interessierte Leser dankbar, nicht mit den immer wiederkehrenden Ausführungen zu beispielsweise den Dachverbänden und den selbsternannten und proklamierten Repräsentanten des Islams in Deutschland, was u.a. Murad Wilfried Hoffmann in seiner Rezension im Journal of Islamic Studies (angenommener Beitrag) kritisiert, geplagt zu werden oder entlang wenig fundierten empirischen Materials ausführliche Abhandlungen zum islamischen Radikalismus lesen zu müssen. Zu diesen Aspekten haben sich andere Autoren schon ausreichend profiliert. Auch hat man sich hier weitgehend auf Deutschland beschränkt, ohne der verführerischen Faszination von Verallgemeinerungen auf eine gesamteuropäische Ebene zu erliegen, die meiner Ansicht nach den vollkommen verschiedenen Rahmenbedingungen in Europa hohnspricht.
Nicht Dichotomien von Entweder-Oder in Hinblick auf Integration oder Verortung in Deutschland respektive in den vermeintlichen Herkunftsländern werden untersucht, sondern die Dynamik von Prozessen und die Akteure selbst werden in den Mittelpunkt gestellt. Das Buch erhebt nicht den Anspruch einer repräsentativen Darstellung der religiösen, sozialen und kulturellen Realität von Muslimen und kommt so der deutschen Wirklichkeit und ihrer Komplexität nah.
Es sind vor allem die Dynamiken, Veränderungen und Anpassungen, die im Vordergrund der Beiträge stehen. So werden in Teil II (Islam and Social Practice) politische und gesellschaftliche Gestaltungs- und Formungsversuche der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf die Muslime dargestellt: z.B. Bemühungen, aus der Mehrheitsgesellschaft, aus Imamen quasi Pendants zu Gemeindepfarrern zu machen (Beitrag Tezcan), aber auch das Bewusstsein der Funktionsträger hierfür und deren Umgang mit diesen Anforderungen (Beitrag Kamp). Muslime in Deutschland sind nicht statisch oder agieren rein reaktiv auf Einflüsse der Mehrheitsgesellschaft, stellen zahlreiche Beiträge in den Vordergrund. Sie verfügen über kulturelles Kapital und Kompetenzen, mit welchen sie kreativ umgehen, ob in der doppelten Nutzung von deutschen und arabischen Medien (Beitrag Pies), im kulturschaffenden Bereich, in der Erfindung der eigenen Religiosität (Beiträge Eilers (u.a.), Jouili), im Wirtschaftsleben oder in der religiösen Selbstverortung (Beitrag Sökefeld). So zeigt beispielsweise Sökefeld in seiner Studie zu den Aleviten in Deutschland, dass sich deren Selbstverständnis und Außendarstellung als religiöse Gruppe von denen der Aleviten der Türkei so sehr unterscheiden, dass in Deutschland wichtige Repräsentanten das Alevitentum als eigene Religion (und nicht eine bestimmte Form des Islams) darstellen und dies auch so in die Türkei kommunizieren.
Zahlreiche Themen bleiben, dies ist den Herausgebern bewusst, unberücksichtigt, denn auch wenn Claudia Preckel in ihrem Beitrag die Muslime Südasiens in der Vordergrund stellt, so stehen doch an erster Stelle türkischstämmige Muslime, gefolgt von arabischstämmigen, im Fokus des Bandes. Die Liste an Themen, die für eine Fortsetzung des Projekts sprechen, ist lang und umfasst neben Einblicken in Muslime anderer Herkunftsregionen auch die Gruppen der Konvertiten und Sufis sowie die Welt der Verbandspolitik und die Frage nach der Bedeutung von ethnischen Orientierungen und deren Auflösung.
Insgesamt ist das Buch also weniger ein Handbuch als ein Ausschnitt aus dem Facettenreichtum des Islams und der Muslime in Deutschland. Abschließend sei bemerkt, dass der Verlag über eine Paperback-Ausgabe nachdenken sollte, denn mit 145 Euro ist das Buch als Textbuch für Studienzwecke trotz seiner Relevanz wenig geeignet ebenso wie auf diese Weise die Nutzung außerhalb wissenschaftlicher Institutionen limitiert wird. Mit einer Übersetzung ins Deutsche würde der Verlag die Debatte um Islam und Muslime in Deutschland zudem nachhaltiger bereichern.
Bekim Agai