Ralph Tuchtenhagen: Kleine Geschichte Norwegens (= Beck'sche Reihe; 1905), München: C.H.Beck 2009, 217 S., ISBN 978-3-406-58453-4, EUR 12,95
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Die weit über 1000jährige Geschichte Norwegens in weniger als 200 Seiten verständlich darzustellen, ist gewiss keine leichte Übung. Ralph Tuchtenhagen hat sich dieser Herausforderung nicht zum ersten Mal gestellt. Für die beck'sche Reihe verfasste er bereits eine "Kleine Geschichte Schwedens", für die Reihe "Wissen" desselben Verlages eine "Geschichte der baltischen Länder". Als Ordinarius für Ost- und Nordeuropäische Geschichte an der Universität Hamburg und seit jüngstem für Skandinavistik/Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin verfügt er zweifelsohne über die notwendige Expertise für eine "Kleine Geschichte Norwegens".
Bei einem derartigen Überblickswerk stellt sich zunächst die Frage, wo der Verfasser Schwerpunkte setzt und was er nicht oder nur am Rande behandelt sowie an welche Zielgruppe er sich wendet. Hierüber findet man jedoch in der Einleitung nur wenig. Es ist lediglich zu erfahren, dass es "um einen historischen Raum, in dem die 'Norweger' die Haupt-, aber durchaus nicht die einzige Rolle spielen" (7), gehe. Zudem solle hervorgehoben werden, dass "Norwegen mehr ist als Wikinger, Arktisforscher und Öl" (11), und Neugierde auf die norwegische Geschichte geweckt werden (12). Das Buch scheint sich bei dieser Zielsetzung in erster Linie an ein breites, an Norwegen interessiertes Laienpublikum zu richten.
Die lange norwegische Geschichte ist in fünf schlüssig periodisierte Hauptkapitel unterteilt. Einer knappen "Vorgeschichte" (13) Norwegens folgen vier vom Umfang ausgewogene Kapitel mit jeweils vier bis sieben Unterkapiteln. Eine dritte, bei knapp 200 Seiten unnötig erscheinende Gliederungsebene, die nicht im Inhaltsverzeichnis auftaucht, entdeckt man erst beim Lesen. Hinzu kommen 19 Informationskästen von bis zu drei Seiten Länge zu Themen wie "Quartär(-Eiszeiten)" (9), "Óláfr der Heilige und der mittelalterliche Óláfr-Kult" (26f.) bis hin zu Kurzbiografien von Willy Brandt (142) und Josef Terboven (147f.). Auch diese Kästen sind nirgends verzeichnet. Sie stören eher im Lesefluss und hätten in vielen Fällen weggelassen oder in den eigentlichen Text integriert werden können. Das Buch verfügt über nützliche Karten und Register, eine Zeittafel sowie ein Literaturverzeichnis.
Im ersten Kapitel gibt Tuchtenhagen einen Überblick von der Steinzeit bis zum Ende der Wikingerzeit in der Mitte des 11. Jahrhunderts, wobei der Wikingerzeit etwas mehr Raum hätte eingeräumt werden können. Anschließend behandelt er das mittelalterliche Norwegen von der Mitte des 11. Jahrhunderts bis zum Zerfall der Kalmarer Union 1523 und widmet sich in Kapitel drei der frühneuzeitlichen Geschichte Norwegens als dänischer Provinz, die es bis zum Ende der napoleonischen Kriege 1814 blieb. Auf Beschluss des Wiener Kongresses musste Dänemark Norwegen an Schweden abtreten. Es folgte ein knappes Jahrhundert norwegisch-schwedischer Union, welches im vierten Kapitel dargestellt wird. Abschließend schildert Kapitel fünf die Geschichte des unabhängigen Norwegens von 1905 bis zur jüngsten, noch immer nicht überstandenen Finanzkrise.
Soweit der Inhalt des Buches, das die wesentlichen Entwicklungen und Ereignisse korrekt und zumeist dem derzeitigen Forschungsstand entsprechend wiedergibt. Nur gelegentlich tauchen Fehler auf. So geriet Willy Brandt zwar 1940 als norwegischer Soldat verkleidet in deutsche Kriegsgefangenschaft, wurde jedoch nicht "nach Deutschland verschleppt" (142), sondern in Norwegen unerkannt aus der Gefangenschaft entlassen. 1994 trat Norwegen nicht etwa dem Europäischen Wirtschaftsrat (176), sondern dem Europäischen Wirtschaftsraum bei.
Neben der politischen Geschichte räumt Tuchtenhagen auch den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen breiten Raum ein, wendet den Blick vom Zentrum auch in die Peripherien Norwegens, von der Mehrheitsgesellschaft auf die religiösen, ethnischen und nationalen Minderheiten des Landes. Das ist eine Stärke des Buches. Hier beginnen jedoch zugleich dessen Schwächen. Es scheint auf beinahe alle Aspekte der norwegischen Geschichte zugleich - oder eben gar nicht - fokussiert zu sein. Ob ein Einführungswerk wirklich die Sozial-, Kultur-, Wirtschafts- und die politische Geschichte ausführlich behandeln muss, ist fraglich. Dabei wäre es zumindest von Vorteil gewesen, die verschiedenen Geschichtsbereiche in einen Gesamttext zu integrieren und nicht isoliert in Unterkapiteln zu behandeln. Zudem geht der Verfasser allzu oft auf - gewiss interessante, aber nicht immer zielführende - Nebenaspekte ein und reißt immer wieder Details an, die er meist entweder ausführlicher oder gar nicht hätte darstellen sollen. So wirkt der Text teils fahrig, sprunghaft und fragmentarisch und bekommt eher einen enzyklopädisch-aufzählenden, denn einen erzählenden Stil. Große Linien und Gesamtzusammenhänge werden hingegen nur schwer erkennbar.
Das größte Manko des Buches ist es jedoch, dass es mit Personen- und Ortsnamen, Zahlen, Daten und Fakten völlig übersättigt ist, wodurch ein flüssiges Lesen kaum möglich wird. Nahezu jeder Regent vom Mittelalter bis zur Gegenwart wird gewürdigt, wobei zum Leidwesen des Lesers von nahezu allen vorkommenden Personen die Lebensdaten und - sofern gegeben - die Herrschafts- bzw. Amtsdauer im Text angeführt werden. Vorneuzeitliche Akteure und Orte benennt Tuchtenhagen in zwei, manchmal drei Sprachen (Altnordisch, Neunorwegisch, Deutsch, gelegentlich auch Englisch) und bleibt auch dann bei der altnordischen Variante, wenn es gebräuchliche eingedeutschte Formen gibt. So wird uns der erste selbsternannte König Norwegens als "Haraldr I. Hárfagri (Harald I. Hårfagre/Harald I. Schönhaar, reg. ca. 850/872 - ca. 930, *um 848, †933)" (18f.) vorgestellt und im Weiteren als Haraldr oder Haraldr Hárfagri bezeichnet. Zugleich ist die Benennung teils inkonsequent. Dicht aufeinander folgend finden sich irritierende Parallelformen wie Óláfr und Olav (26f.) oder Bergen und Bjørgvin (48f.). Auch unzählige Fach- und Sachtermini werden in der deutschen und altnordischen bzw. neunorwegischen Form eingeführt, wobei auch hier oftmals die nordische Variante im Text weiterverwendet wird. Bei der Schilderung des mittelalterlichen Adels kommen auf anderthalb Seiten 16 verschiedene, Wiederholungen mitgezählt insgesamt 38 altnordische Wörter (43f.) vor.
Ob Tuchtenhagen hier wirklich die breite Leserschaft oder nicht vielmehr Studierende der Skandinavistik im Blick hatte, ist unklar. Auch für letztere dürfte das Buch kaum leicht konsumierbar sein, ist aber zumindest als Orientierungs- und Referenzwerk gut geeignet. Dass es beim interessierten Norwegenfreund die Neugierde auf norwegische Geschichte weckt, muss jedoch stark bezweifelt werden. Zuletzt ist zu fragen, ob das Buch im Verlag überhaupt lektoriert wurde. Viele der Mängel wären leicht behebbar gewesen, wodurch ein gutes Einführungswerk hätte entstehen können.
Benjamin Gilde