Michel Grunewald / Uwe Puschner (Hgg.): Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900 / Perceptions de la crise en Allemagne au début du XXe siècle. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich / Les périodiques et la mutation de la société allemande à l'époque wilhelmienne (= Convergences; Vol. 55), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2010, XII + 598 S., ISBN 978-3-03911-743-7, EUR 76,60
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Wirtschaftskrise, Bankenkrise, Krise des Sozialstaats, Krise der Volksparteien - der "Krisen"-Begriff wird nicht erst seit dem Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 inflationär gebraucht. In den meisten Fällen dient er dabei eher der plakativen Etikettierung als einer differenzierten Auseinandersetzung mit einer komplexen Thematik. Rudolf Vierhaus definiert eine Krise als einen Prozess, dessen Anfang, Höhepunkt und Ende prinzipiell datierbar seien. Bestehende stabile und funktionierende Zustände würden erodieren und die eingetretenen Störungen seien nicht mit hergebrachten Mitteln zu überwinden, sondern machten eine Reform oder eine Revolution erforderlich. [1] Dieses Gefühl, in einer Epoche des Umbruchs mit ungewissem Ausgang zu leben, durchzieht Publikationen der Jahrhundertwende um 1900 wie ein roter Faden. Martin Doerry hat die Mentalität der wilhelminischen Gesellschaft deshalb in Übernahme einer zeitgenössischen Charakterisierung treffend als "Übergangsmenschen" bezeichnet. [2]
Die Bedeutung von Zeitschriften im Hinblick auf ihre zeitspezifischen Krisenwahrnehmungen und Krisenbewältigungsstrategien für die Gesellschaft des wilhelminischen Kaiserreichs auszuloten, war das Ziel einer 2007 an der Universität Metz stattgefundenen interdisziplinären Tagung, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist. Für die Herausgeber, den französischen Germanisten Michel Grunewald und den an der FU Berlin lehrenden Historiker Uwe Puschner, fungieren Zeitschriften als "Seismographen ihrer Gegenwart" (5), die die Krisen- und Umbruchsstimmung des Fin de Siècle nicht nur widerspiegeln, sondern als Leitmedium des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auch Ursachen diagnostizieren und Krisenbewältigungsstrategien formulieren.
Der Band enthält neben einleitenden "Vorbemerkungen" der beiden Herausgeber insgesamt 27 Aufsätze, davon vier auf Französisch. Die ersten drei Aufsätze tragen dabei zum Problemaufriss bei, während in den folgenden 24 Beiträgen jeweils eine "nach milieu-, gesellschafts- und weltanschauungs- bzw. ideologiespezifischen Kriterien" (5) ausgewählte Zeitschrift vorgestellt wird. Zur besseren wechselseitigen Orientierung finden sich am Schluss des Buches kurze Zusammenfassungen der Beiträge in beiden Sprachen. In der sehr knapp gehaltenen Einleitung der Herausgeber werden vier Leitfragen formuliert, die in den einzelnen Beiträgen aufgegriffen und beantwortet werden sollten: 1) Wie war in der jeweiligen Zeitschrift die spezifische Wahrnehmung von Krise und Umbruch? 2) Welche Ursachen wurden dafür genannt? 3) Welche Krisenbewältigungs- und Zukunftskonzepte wurden in der Zeitschrift vorgeschlagen? 4) Inwieweit bestand ein Zusammenhang zwischen der Krisendiagnose und dem Vorschlag zur Bewältigung der Krise und der Verortung der Zeitschrift in der wilhelminischen Gesellschaft?
Die drei einführenden Aufsätze von Rüdiger vom Bruch zur Charakterisierung des wilhelminischen Kaiserreichs als Zeit der Krise und des Umbruchs, von Gilbert Merlio zur Kulturkritik um 1900 und von Reiner Marcowitz zur Krise der deutschen Außenpolitik unter Wilhelm II. gehören zu den lesenswertesten Beiträgen des Bandes. Der Gegenstand des letztgenannten Beitrags mag dabei bei vordergründiger Betrachtung erstaunen, doch zeigt Marcowitz pointiert auf, dass Krise und Umbruch für die Analyse der deutschen Außenpolitik zwischen 1890 und 1914/18 "besonders tragfähige Interpretationsansätze" (53) sind. Wilhelm II. habe ähnlich wie Bismarck über ein Krisenbewusstsein verfügt, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Während die Außenpolitik des Kaisers von einem regelrechten Inferioritätskomplex geprägt gewesen sei, habe der Reichskanzler ein realpolitisches "Krisenmanagement" (55) betrieben.
Betrachtet man nun im Folgenden die "Fallstudien" zu den einzelnen wilhelminischen Zeitschriften, so überrascht die Uneinheitlichkeit der Beiträge. Obwohl die Herausgeber dezidierte Leitfragen vorgegeben haben, ist bei einigen Aufsätzen nur eine marginale Orientierung daran zu erkennen. So handelt es sich z.B. bei Björn Hofmeisters Beitrag in erster Linie um eine Geschichte der Alldeutschen Blätter, der Zeitschrift des Alldeutschen Verbandes; der Kontext von Krise und Umbruch bleibt dagegen unterbelichtet. Insgesamt überzeugend sind die Vorstellungen von Zeitschriften vermeintlicher Minderheiten der wilhelminischen Gesellschaft, in denen die Krisenzeit um 1900 als "grundsätzlich offene Situation" (116) - so Christopher Dowe in seinem Beitrag über katholische Akademiker und ihre Verbandsorgane - verstanden wird. Klaus Große Kracht kommt nach der Auswertung der Jahrgänge 1891-1906 der Verbandszeitschrift des Volksvereins, einer Kaderschmiede der katholischen Arbeiterbewegung, zu einem ähnlichen Ergebnis: Statt Untergangsstimmung wegen der als Krisenphänomen wahrgenommenen sozialen Frage habe eine "Art optimistische Betriebsamkeit" vorgeherrscht, für die das "Wort 'Krise' eher Ansporn als Fatum" (114) bedeutet habe. Früher als andere Teile des Katholizismus habe sich der Volksverein von der paternalistischen Sozialfürsorge distanziert und auf die sozialpolitische Schulung der Arbeiterschaft als Krisenbewältigungsinstrument gesetzt. Auch die von Judith Ciminski vorgestellte jüdische Zeitschrift Ost und West liefert "geradezu ein Beispiel für den Zusammenhang von Krisenbewusstsein und Zukunftsoptimismus" (175). Den drei zentralen Dimensionen einer jüdischen Krisen- und Umbruchserfahrung um 1900 trete der Kulturzionismus als neue Form der Krisenbewältigung entgegen.
Als Gefahr wahrgenommen wurde die Krise dagegen von den herrschenden Eliten, die ihre Stellung bedroht sahen. So diagnostizierte das von Michael Seelig ausgewertete Adelsblatt die zeitgenössische Krise als "Krise in der Moderne" (475), der mit einer vermeintlich einfachen Krisenbewältigungsstrategie beizukommen sei: Überwindung der Krise durch Überwindung der Moderne! Dem Adel sei die Aufgabe zugewiesen worden, das christlich-konservative Prinzip wieder in Staat und Gesellschaft durchzusetzen. Kirstin A. Buchinger zeigt am Beispiel von Militärzeitschriften das "Phänomen einer Flucht in die Utopie" (493), das als kompensatorische Reaktion auf das um die Jahrhundertwende verbreitete Empfinden zu verstehen sei, die materiellen und personellen Ressourcen Deutschlands seien denen der potentiellen Gegner unterlegen.
Insgesamt handelt es sich bei dem vorliegenden Band um einen interessanten Beitrag zur Diskussion der Krisen- und Umbruchszeit um 1900, der bei der heutigen negativen Besetzung des Begriffs "Krise" sehr erhellend sein kann. Der Gesamtertrag der Aufsätze wäre allerdings größer geworden, wenn man auf eine stärkere Einheitlichkeit der Beiträge geachtet hätte.
Anmerkungen:
[1] Rudolf Vierhaus: Krisen, in: Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, 193-197.
[2] Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim / München 1986.
Michaela Bachem-Rehm