Thorsten Fitzon / Sandra Linden / Kathrin Liess u.a. (Hgg.): Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte, Berlin: De Gruyter 2012, XV + 445 S., ISBN 978-3-11-025478-5, EUR 119,95
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Das vorliegende Sammelwerk ist, wie sein in "sehepunkte 10 (2010), Nr. 9" besprochener Vorgängerband Alterstopoi, hervorgegangen aus einer Tagung im Rahmen des Nachwuchskollegs der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zum Thema der "Religiösen und poetischen Konstruktion der Lebensalter". Auch dieser Band ist diachron strukturiert und behandelt das Leitthema "Alterszäsuren" - worunter laut Vorwort (VII) "kulturell habitualisierte Regeleinschnitte in der sozialen Biographie des Menschen" zu verstehen sind - in verschiedenen kulturellen Kontexten und literarischen Gattungen vom Altertum bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts.
Am Beginn stehen zwei theologische Beiträge von Friedrich Schweitzer ("Der Wandel des menschlichen Lebenszyklus") und Günter Thomas ("Das hohe Alter als Herausforderung der theologischen Anthropologie"), die vorwiegend propädeutischen Charakter besitzen und das eigentliche Thema der "Alterszäsuren" eher am Rande behandeln. Deutlich entschiedener lässt sich danach Udo Friedrich auf "Altersstufen als Narrative und Metaphern in mittelalterlichen Wissens- und Erziehungsdiskursen" (49-79) und damit auf die "Alterszäsuren" ein und zeigt die epochenspezifischen und kontextgebundenen Differenzierungen auf, denen alle Lebensgliederungsmodelle als (soziokulturelle) Konstruktionen unterworfen sind.
Den ersten systematischen Teil der Abhandlungen beschließt dann der amerikanische Gerontologe William Randall mit recht salopp gehaltenen Ausführungen ("A Time to Read. Reflections on Narrative Openness in Later Life"), die im wesentlichen um eine Grundthese zirkulieren (81-102): Unser Leben ist ein Text, Leben bedeutet mehr als das physische Existieren, "what we experience is our texistence" (84). So eingängig derart zugespitzte Formulierungen mit originellen Wortschöpfungen klingen, so schnell stoßen sie jedoch an die Grenzen ernsthaft zu vertretender wissenschaftlicher Positionen oder geraten in den Verdacht, alten Wein in neuen bunten Schläuchen zu vermarkten. Leben im Alter, so Randall, bedeute, zu memorieren und das eigene Leben zu lesen - wer das nicht leiste, lebe nicht, habe keine Lebensgeschichte: "No reader, no text. No text, no story" (92). Anschließend zitiert Randall (93) den Palliativmediziner D. Kuhl mit folgendem Satz:"dying, like living, presents opportunity for personal growth and development", um seine These zu untermauern, dass "even in the face of death" noch ein Potential für "development" bestehe. Nicht nur die überwiegende Zahl Betroffener und am Sterbegeschehen Beteiligter dürfte dieser Auffassung schwerlich folgen wollen.
Mit seinen Überlegungen zum "Erwachsenwerden - Entwicklung oder Vollendung? Perspektiven der Hebräischen Bibel" (103-130) eröffnet der Theologe Andreas Kunz-Lübcke den zweiten, größeren Teil des Buches, in welchem es um Texte aus knapp vier Jahrtausenden geht: von altägyptischen Erziehungskonzepten bis zu Philipp Roth's "The Dying Animal" aus dem Jahr 2001. Aus diesem insgesamt dreizehn Beiträge umfassenden Block seien nur einige hervorgehoben.
Kathrin Liess analysiert "Lebenszeit und Alter in den Psalmen" (131-170) und vermag zu zeigen, dass sich komplexe Altersvorstellungen auf mehreren Ebenen - "Selbstbezug, Weltbezug und Gottesbezug" (160) - aus dieser Textsorte herauspräparieren lassen.
Von einem Passus eines attischen Redners des 4. Jahrhunderts v. Chr. (Aischin. 1,23) geht Jan Timmer aus und präsentiert plausible "Überlegungen zu einer Zäsur und ihrem Verschwinden im Lebenslauf attischer Bürger" (193-219). Aischines überliefert eine angeblich aus solonischer Zeit stammende Regel, derzufolge das Rederecht in der athenischen Volksversammlung nach Altersgrenzen gestaffelt war, die inzwischen, so Aischines, jedoch nicht mehr praktiziert würden. Timmer kontextualisiert dieses alte Prinzip und zeichnet die Entwicklung nach, die zur Aufgabe des Erstrederechts der älteren Politen führte.
Von den folgenden drei Beiträgen, die sich mit griechischen und römischen Zeitvorstellungen, Zeitaltermythen (Hesiod, Ovid), der Aufhebung der Zeitlichkeit in der Kaiserpanegyrik (Statius, Martial) und der spätantik-christlichen Altersdeutung beschäftigen, sei der zuletzt angesprochene Text von Therese Fuhrer über "Erneuerung im Alter: Augustins aetates-Lehre" (261-287) herausgestellt. Fuhrer konfrontiert Augustins Umdeutung des Greisenalters vom Verfallsstadium zur (freilich erst durch spirituelle Anstrengung zu nutzenden) Erneuerungsphase mit der (paganen) literarischen Tradition des Lebensaltervergleichs und zeigt dabei Verbindendes und Trennendes auf. Allerdings hätte sie auf die damit eng verbundene Problematik der "Roma aeterna"-Idee näher eingehen sollen, denn diese stellte gerade auch die christlichen Vertreter dieses Gedankens vor das Dilemma, die zunächst als inkompatibel erscheinenden Motive der Endlichkeit des Irdischen, der Unvergänglichkeit Roms und der Ewigkeit des Jenseitigen miteinander in ein überzeugendes Verhältnis zu setzen.
Die folgenden sechs Beiträge behandeln je zur Hälfte die alt- und mittelhochdeutsche sowie die neue und neueste deutsche Literatur. Bereits im "Hildebrandslied" lassen sich verschiedene Zeitschichten mit kontingenten Figurenperspektiven verbinden (allzu knapp: Uta Störmer-Caysa, 289-297), in den Liedern Oswalds von Wolkenstein steht das Alter, wie Sandra Linden zeigt, ganz im Zeichen von Verfall und Todesnähe (323-353), und Thorsten Fitzon leuchtet am Beispiel von Arthur Schnitzlers "Frau Beate und ihr Sohn" mit Hilfe des psychologischen Instrumentariums von Carl Gustav Jung die emotionalen, sexuellen und psychoszialen Untiefen des "gefährlichen Alters" der mittleren Lebensjahre aus (405-432).
Der Band Alterszäsuren ist disparater als sein eingangs erwähnter Vorläufer über Alterstopoi. Überzeugend fallen erneut vor allem diejenigen Beiträge aus, die mit einer pointierten Fragestellung der Textanalyse unterschiedlicher Gattungen aus verschiedenen Epochen gewidmet sind. Konzeptionell und methodisch wäre freilich eine etwas größere Stringenz wünschenswert gewesen. Und schließlich bleibt kritisch anzumerken, dass in einem Buch, welches sich mit hohem methodischem Anspruch der Frage widmet, " wie am Beispiel von Lebensstufen und -zäsuren die Redeweisen von den Lebensaltern mit übergeordneten Modellen und Zeitvorstellungen korrespondieren" (XV), die hochkomplexe kulturwissenschaftliche Kategorie der "Generation" prominente Berücksichtigung hätte finden müssen. Dies ist leider weitgehend unterblieben - obwohl erst jüngst dazu eine in keinem der Beiträge berücksichtigte, vorzügliche Synthese erschienen ist: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, herausgegeben von O. Parnes u.a., Frankfurt am Main 2008.
Hartwin Brandt