Monica Corrado: Mit Tradition in die Zukunft. Der tagdid-Diskurs in der Azhar und ihrem Umfeld (= Kultur, Recht und Politik in Muslimischen Gesellschaften; Bd. 19), Würzburg: Ergon 2011, IX + 276 S., ISBN 978-3-89913-835-1, EUR 39,00
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Michalis N. Michael / Matthias Kappler / Gavriel Eftihios (eds.): Ottoman Cyprus. A Collection of Studies on History and Culture, Wiesbaden: Harrassowitz 2009
Fakhreddin Azimi: The Quest for Democracy in Iran. A Century of Struggle against Authoritarian Rule, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2008
Maria E. Subtelny: Timurids in Transition. Turko-Persian Politics and Acculturation in Medieval Iran, Leiden / Boston: Brill 2007
A. Azfar Moin: The Millennial Sovereign. Sacred Kingship and Sainthood in Islam, New York: Columbia University Press 2012
"Die Zukunft war früher auch besser", wusste bereits Karl Valentin und brachte damit nebenbei auch ein Grundproblem religiösen Reformeifers auf den Punkt. Immer wieder kollidiert die schiere Gewissheit, einer von Gott dereinst gestifteten vollkommenen Gemeinde anzugehören, mit der rauhen Wirklichkeit des jeweiligen heute, in der vieles geschieht, was so gar nicht mit den heiligen Schriften zusammenpasst. An der göttlichen Offenbarung kann es bei diesem Blick auf die Dinge klarerweise nicht liegen, eher schon an der Fehlbarkeit des Menschen. Das ahnten auch die muslimischen Gelehrten schon immer, und so existiert praktischerweise ein Ḥadīṯ, demzufolge Gott am Beginn eines jeden Jahrhunderts jemanden schicke, der die Religion erneuere - eine durchaus bemerkenswerte Wortwahl, denn warum eigentlich sollte die Religion als solche erneuert werden, wo sie doch schon perfekt ist? Listen solcher Erneuerer (muǧaddidūn) zirkulierten bereits früh, und der ohnedies nicht von Bescheidenheit geplagte ägyptische Gelehrte as-Suyūṭī (gestorben 1505) meldete gleich selbst seine Kandidatur für einen solchen Listenplatz an. Obgleich es sich bei dieser Überlieferung, wie in so vielen Fällen, wohl um eine mehr oder minder fromme Fälschung handelt, hat sie bis in die Gegenwart ihre Bedeutung für die innerislamische Reformdiskussion nicht verloren.
Diese Debatte ist der Gegenstand des anzuzeigenden Buches von Monica Corrado, das 2010 als Dissertation an der Universität Bern eingereicht worden war. Besser gesagt: es geht um einen sehr eng umrissenen Teilbereich der Debatte, nämlich um jene Stimmen, die sich zwischen 1930 und 2008 in der Zeitschrift der Kairiner Azhar-Universität oder anderen ihr nahestehenden Organen zu Wort meldeten. Alles in allem hat es allerdings den Anschein, dass diese Quellenbasis allzu schmal geraten ist, zumal der eigentliche Ertrag dieser Debatten wiederum lediglich auf ein längeres Teilkapitel des dritten Teils beschränkt bleibt (nämlich auf III.3: "Die Diskursmotive", 107-219). Der Rest ist größtenteils kaum mehr als Beiwerk, das nicht unbedingt zur weiteren Erhellung beiträgt. Das gilt für die unverhältnismäßig lange und etwas umständliche Einleitung (5-46) und den unergiebigen Methodenteil (47-54) ebenso wie die beiden Teilkapitel über die Institutionen (55-80) und die Autoren (80-107). Ersteres ist ein Abriss der Azhar-Geschichte von 972 bis in die Gegenwart, der überwiegend auf bekannter Sekundärliteratur beruht, letzteres eine Sammlung bio-bibliographischer Skizzen, die nicht über Stenogramme der wichtigsten Lebensdaten und Aufzählungen der Schriften der jeweiligen Autoren hinausreicht. Das abschließende vierte Kapitel ("Erneuerung weltweit", 221-36) wirkt beliebig und wie angeklebt; die Auswahl der Beispiele (Abū l-Aʿlā al-Maudūdī, Ḥasan at-Turābī, ʿAbdallāh at-Turkī) erfolgte "aufgrund ihrer Bekanntheit" (223), während bei zwei weniger geläufigen Autoren (Aḥmad aš- Šukairī und Fazlun Khalid) die Quellenbasis wiederum aus je einem einzigen NZZ-Artikel besteht. Eine Systematisierung der hier versammelten Thesen findet leider nicht statt; sie wäre in der (gemessen an der Überschrift) grotesken Kürze des Kapitels auch gar nicht zu schaffen gewesen.
Aber auch aus besagtem Hauptteil über die Diskursmotive wird der Leser nicht wirklich schlau. Wirkt bereits die Auswahl der Quellen recht mechanisch (nämlich in erster Linie über das Auftauchen bestimmter Schlüsselwörter in der Überschrift, 27), so gilt das nicht minder für die Schlussfolgerungen, die die Autorin daraus zieht. Kaum je verlässt sie das starre Raster der sieben apodiktisch von ihr - nach welchen Kriterien eigentlich? - festgelegten Motive (Krise, Tradition, vorbildliche Lebensführung, Autorität, Islamrechtliche Normativität, Reform, Das Eigene und das Andere); alles was nicht in dieses vorgefertigte Raster passt, wird nicht zur Kenntnis genommen. Symptomatisch zeigt sich das etwa bei der Frage nach der Demokratie, die, das ließe sich jedenfalls vermuten, Teil der Reform- und / oder Erneuerungsdebatten sein müsste. Das ist, so die Autorin, nicht der Fall - aber die Antwort auf das Warum ist ein vages Stochern im Nebel (156): "Das könnte zum einen ein Zeichen dafür sein, dass die Thematisierung und das Anzweifeln der vorherrschenden Regierungsform in Ägypten (immer noch) ein Tabuthema darstellt; zum anderen könnte es aber auch auf eine bewusste Abgrenzung der Autoren von den Vertretern eines politischen Islams hindeuten. Eine dritte nicht auszuschließende Möglichkeit besteht darin, dass die Kritik an der Regierungsform und die Forderung nach Demokratie über eine andere den Autoren vertraute Terminologie erfolgt, die in der vorliegenden Arbeit nicht in den Blick geriet, da sie einem anderem Diskurs zugeordnet ist." Übersetzt heißt das: Demokratie spielt für die Autorin allein deshalb keine Rolle, weil der Begriff in keiner Überschrift auftaucht.
Völlig unverständlich ist des weiteren, warum Quellen zur islamischen Jurisprudenz (fiqh) bewusst ausgeklammert werden (171f., Anm. 441 und 173) - obwohl es gleich zwei Teilkapitel zum Thema "šarīʿa und fiqh" gibt ( 179ff. und 187ff.). Dabei lassen sich doch gerade auf diesem Gebiet immer wieder einschlägige Reformanstrengungen beobachten. Das gilt nicht zuletzt für die in den vergangenen Jahrzehnten neuentstandene Gattung des islamischen Minderheitenrechts (fiqh al-aqallīyāt, womit die als Minderheiten in nicht-muslimischer Umgebung lebenden Muslime in Westen gemeint sind), die von der Autorin lediglich in einem einzigen Satz kurz gestreift wird (188). Im Lichte dessen ist zuletzt auch die Schlussfolgerung fragwürdig, hier sei eine Diesseitsorientierung des Erneuerungsdiskurses und damit eine Säkularisierung zu beobachten, "zeigt sich darin doch, dass der Religion eine bestimmte Sphäre in der Gesellschaft zugewiesen wird" (239). Einmal abgesehen davon, dass das eine doch recht eigenwillige und verkürzte Definition von Säkularisierung darstellt, widerspricht ihr die Autorin selbst eine halbe Seite später und bezeichnet die Erneuerungsdebatte als "authentisch-islamische Alternative zu westlichen Modernisierungsvorstellungen" und in den Augen der Beteiligten "glaubwürdiger als (säkulare) Modernisierungskonzepte aus Europa oder dem 'Westen'" (240). An keiner Stelle schließlich wird die Rolle der Azhar als Institution deutlich, beziehungsweise, was die hier vorgestellte Debatte von einzelnen Autoren mit der Azhar insgesamt zu tun hat.
Formal hätte sich etliches straffen lassen; so wäre es sicher nicht notwendig gewesen, jedes der (bisweilen zu) ausführlichen übersetzten Zitate aus den Quellen in den Fußnoten in vollständiger Transkription wiederzugeben, so manche Anmerkung, die Selbstverständlichkeiten erklärt, hätte getrost wegfallen können, und das Wort "nichtsdestotrotz" wird durch ständige Wiederholung auch nicht richtiger. Die Indices sind alles andere als vollständig und daher nur mit Vorsicht zu benutzen. Alles in allem: ein durchaus gewissenhaftes Buch, das an der Mutlosigkeit der Autorin, das selbst gezimmerte Gefängnis ihres vorgefassten Erkenntnisinteresses zu verlassen, aber letztlich scheitert.
Rainer Brunner