Astrid Lang: Die frühneuzeitliche Architekturzeichnung als Medium intra- und interkultureller Kommunikation. Entwurfs- und Repräsentationskonventionen nördlich der Alpen und ihre Bedeutung für den Kulturtransfer um 1500 am Beispiel der Architekturzeichnungen von Hermann Vischer d. J. (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 92), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2012, 224 S., ISBN 978-3-86568-637-4, EUR 49,00
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Hermann Vischer der Jüngere, Sohn des Nürnberger Bronzegießers Peter Vischer, reiste 1515/16 ein Jahr lang durch Italien. Von dieser Reise brachte er eine größere Zahl von Zeichnungen mit, in denen er antike und aktuelle Bauten festgehalten hat. Schon der Aufriss von Albertis Sant'Andrea in Mantua jedoch verwirrt den heutigen Betrachter: die vertraute Ansicht erscheint merkwürdig schematisch und verzerrt. 24 dieser sonderbaren Zeichnungen Hermann Vischers d.J. sind Gegenstand der Studie von Astrid Lang. Sie haben sich in einem größeren Konvolut von Zeichnungen aus der Werkstatt der berühmten Nürnberger Künstlerfamilie erhalten, das in der grafischen Abteilung des Louvre aufbewahrt wird. Erstaunlicherweise sind diese Zeichnungen bisher in der Forschung kaum beachtet worden - zu Unrecht, wie die vorliegende Studie zeigt.
Mit ihrem methodisch anspruchsvollen Interesse an Architekturzeichnungen findet sich die Arbeit in Gesellschaft einer ganzen Reihe von zum Teil groß angelegten Untersuchungen, die in den letzten Jahren den erstaunlich reichen Bestand an Architekturzeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts aus dem nordalpinen Raum neu in den Fokus genommen haben. [1] Zugleich thematisiert Lang mit ihrer Schwerpunktsetzung jene in den letzten Jahren wieder intensiver untersuchte "Sattelzeit", die schon vor über 100 Jahren Georg Dehio und August Schmarsow in eine erbitterte wissenschaftliche Auseinandersetzung geführt hat. [2] Schließlich leistet die Arbeit sowohl faktisch als auch methodisch einen präzisen Beitrag zu jenem Themenkomplex, der in den letzten Jahren nicht nur in der Kunstgeschichte unter den Stichworten intra- und interkultureller Austausch, Kulturtransfer, Transformation, Translation usw. in den Fokus gerückt worden ist. [3]
Die aus einer von Norbert Nußbaum in Köln betreuten Dissertation hervorgegangene Arbeit stellt konsequent den besonderen, im Medium selbst liegenden Quellenwert der Architekturzeichnung heraus. Das Konvolut von 24 Zeichnungen befragt Lang systematisch aus der Perspektive der Medien- und Kommunikationstheorie. Der besondere Wert der Arbeit liegt darin, dass sie eine bislang zumeist übersehene Informationsschicht frühneuzeitlicher Zeichnungen offenlegt - die mit einem Griffel oder der Zirkelspitze in das Papier gedrückte Blindrille.
Das Buch ist in drei Hauptteile gegliedert. Zunächst entwickelt die Autorin mit hohem Aufwand ein umfassendes Kommunikationsmodell. In diesem "sowohl im Kontext der medialen neuzeitlichen Kommunikation allgemein anwendbare[n] als auch auf die medialen Eigenschaften der Architekturzeichnung und ihre möglichen verschiedenen Ausprägungen ausgerichtete[n] Kommunikationsmodell" (8) sieht die Autorin selbst ein zentrales Ergebnis ihrer Arbeit. Mitunter erscheint die Argumentation, die eine umfassende kunstgeschichtliche, soziologische, medien- und kommunikationstheoretische Materialbasis ausbreitet, als zu detailliert und zu ausschweifend. Da es jedoch schließlich gelingt, diese Diskussion der methodischen Grundlagen gewinnbringend an den konkreten Gegenstand der Arbeit anzubinden, muss der besondere Wert der hier für die Erforschung der Architekturzeichnung geleisteten Grundlagenarbeit deutlich herausgehoben werden.
Im zweiten Hauptteil werden die frühneuzeitlichen Architekturzeichnungen nördlich und südlich der Alpen nach einem einheitlichen Fragenkatalog untersucht. Die jeweils spezifische Bauorganisation und Baupraxis wird dabei ebenso berücksichtigt, wie die Entwurfs- und Repräsentationstraditionen und die kommunikativen Aufgaben und Möglichkeiten im jeweiligen Kontext. Die Ergebnisse dieses Kapitels zeigen, dass die Architekturzeichnungen nördlich und südlich der Alpen um 1500 sehr verschiedene kommunikative Aufgaben zu erfüllen hatten. Diese Diskrepanz war, wie Lang zusammenfassend formuliert, nicht zuletzt darin begründet, dass Entwurf und Baupraxis im Norden noch lange in der Hand des Werkmeisters eng miteinander verbunden blieben, während sich in Italien schon früh Tendenzen zur Trennung dieser beiden Bereiche erkennen lassen, was zu einem größeren Einfluss 'fachfremder' zeichnerischer Darstellungstechniken etwa der Maler und Bildhauer auf die Architekturzeichnung führte.
Mit bemerkenswerter Konsequenz wird der Leser im dritten Hauptteil vor die 24 Blätter von Vischer geführt. Deren Untersuchung versteht sich als exemplarische Anwendung des im ersten Hauptkapitel erarbeiteten Kommunikationsmodells. Eine detaillierte Autopsie legt dabei ein besonderes Augenmerk auf jene in Blindrillen und Zirkeleinstichen auffindbaren Spuren, welche die Konstruktion der Zeichnung rekonstruierbar machen. Grafisch sehr anschauliche Darstellungen in einem separaten Tafelteil machen diese einer Vorzeichnung ähnlichen Spuren sichtbar und erlauben es dem Leser, Vischer bei der Konstruktion dieser Zeichnungen gewissermaßen über die Schulter zu schauen. Schließlich werden die besonderen Charakteristika von Vischers Zeichnungen im Vergleich mit zeitgenössischen Darstellungen von Raffael, Martin van Heemskerck u.a. sowie im Abgleich mit modernen Aufmaßen oder Fotografien herausgearbeitet.
In einem Unterkapitel führt die Autorin dann die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen mit dem Ziel zusammen, "die Art und Weise der Kodierung und den Informationsgehalt der Zeichnungen" (153) zu entschlüsseln. In diesem zentralen Kapitel der Arbeit wird die besondere Bedeutung der 24 Zeichnungen Vischers als Zeugnis für die Darstellungsstrategien der nordalpinen Architekturzeichnung einerseits und für deren Handhabung als Medium des Kulturtransfers andererseits plausibel untermauert. Die auffälligen Besonderheiten der Zeichnungen Vischers wie etwa die vom realen Bau abweichenden Proportionen, die oft schematisch wirkende Darstellungsweise oder das Fehlen von Bemaßungen und erläuternden Texten können überzeugend auf die Darstellungskonventionen von Architektur zurückgeführt werden, die zu dieser Zeit nördlich der Alpen in Gebrauch waren.
Anhand der Zeichnung der Fassade von Sant'Andrea in Mantua wird die Entwurfsmethodik von Vischer dann in einer 16 Schritte umfassenden Detailanalyse vorgestellt. Die in zahlreichen Abbildungen eingehend erläuterten Konstruktionsschritte belegen unübersehbar, dass diese Zeichnung wie die anderen "auf ein geometrisch basiertes, dynamisches und äußerst variables Proportionssystem aufbaut" (158). Hinter den auf den ersten Blick so irritierenden proportionalen Abweichungen und dem befremdlichen Schematismus der Zeichnungen von Vischer steckt ein enormer konstruktiver Aufwand. Sehr bewusst, so die Autorin, hat Vischer "die Proportionierung der Architektur nach seiner eigenen Entwurfsmethode ihrer tatsächlichen Proportionierung vorgezogen, also den status quo durch einen zeichnerisch ermittelten status desideratus ersetzt" (198). Mit der hier fassbaren "Umkodierung vitruvianischer Proportionen [...] mittels einer offenbar mitteleuropäischen [...] Konstruktionsstrategie" wird - so deutlich wie selten - ein selektiver Übersetzungsvorgang greifbar, der die Rolle von Darstellungskonventionen im Transfer von Informationen nachdrücklich unterstreicht.
Die Anregungen, welche die Arbeit von Lang der Erforschung des frühneuzeitlichen Kulturtransfers zwischen Italien und Mitteleuropa gibt, liegen auf zwei Ebenen. Einerseits stellt sie eine differenziert ausgearbeitete Methode zur Diskussion, die in zwei instruktiven Schaubildern zum "Kommunikationsmodell Architekturzeichnung" (25, 199) didaktisch aufgearbeitet wird. Andererseits weist sie mit der von Vischer angewandten geometrisch-dynamischen Entwurfsstrategie die Architekturzeichnung als Modus eines selektiven Kulturtransfers nach, der insbesondere in seiner Anwendung auf die bekannte Hybridität nordalpiner Bauten oder Architekturdarstellungen zahlreiche neue Erkenntnisse verspricht.
Anmerkungen:
[1] Siehe beispielsweise das 2010 abgeschlossene DFG-Projekt "Architektur- und Ingenieurzeichnungen der deutschen Renaissance. Digitalisierung und wissenschaftliche Erschließung des Zeichnungsbestandes von 1500-1650", http://www.deutschefotothek.de/db/apsisa.dll/ete?action=viewPage&page=architekturzeichnungen-projekt.xml (07.03.2014); das 2011 abgeschlossene DFG-Projekt "Online-Bestandskatalog der architektonischen Handzeichnungen des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel in der Universitätsbibliothek Kassel (2º Ms. Hass. 107)", http://www.ub.uni-kassel.de/landgraf-moritz.html (07.03.2014) oder die von Johann Josef Böker in nunmehr drei Bänden vorgelegten, teilweise dem Karlsruher DFG-geförderten Forschungsprojekt "Architekturzeichnungen der Gotik" entstammenden Untersuchungen zur "Architektur der Gotik".
[2] Siehe beispielsweise: Christian Striefler (Hg.): Schlossbau der Spätgotik in Mitteldeutschland, Tagungsband, Dresden 2007; Stephan Hoppe / Matthias Müller / Norbert Nußbaum (Hgg.): Stil als Bedeutung in der nordalpinen Renaissance. Wiederentdeckung einer methodischen Nachbarschaft, Regensburg 2008; Anke Neugebauer / Franz Jäger (Hgg.): Auff welsche Manier gebauet. Zur Architektur der mitteldeutschen Frührenaissance (= Hallesche Beiträge zur Kunstgeschichte; Bd. 10), Halle 2010; Stefan Bürger / Bruno Klein (Hgg.): Werkmeister der Spätgotik, Darmstadt 2010.
[3] Siehe beispielsweise: Kristoffer Neville: Nicodemus Tessin the Elder. Architecture in Sweden in the Age of Greatness, Turnhout 2009 (insbes. das Kap. Architectural Theory II: Synthesis, 185-206); Hartmut Böhme / L. Bergemann u.a. (Hgg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011; Esra Akcan: Architecture in Translation, Durham / London 2012.
Christof Baier