Mirjam Neumeister (Hg.): Brueghel. Gemälde von Jan Brueghel d. Ä.. Katalogbuch zur Ausstellung in München, München: Hirmer 2013, 448 S., 448 Abb., ISBN 978-3-7774-2036-3, EUR 49,90
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Mirjam Neumeister: Holländische Gemälde im Städel 1550-1800. Band 1: Künstler geboren bis 1615. Unter Mitarbeit von Christiane Haeseler bei den gemäldetechnologischen Untersuchungen, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2005
In einer Flusslandschaft von Jan Brueghel d.Ä. von 1602 sind Boote mit zartem, gelblichem Pinselstrich so fein skizziert, dass sie dem bloßen Auge fast entgehen (100, Abb. 83); dennoch tragen sie dazu bei, den Eindruck der Raumtiefe raffiniert zu erhöhen. "Zum Hintergrund hin [werden] die Pinselstriche immer kürzer und summarischer", ein Mittel, um "den besonderen Reiz für den Betrachter" zu steigern. Im vorliegenden Band wird die Freude am Detail durch insgesamt 40 mikroskopisch vergrößernde Aufnahmen und durch aufschlussreiche Ausführungen zur Maltechnik unterstützt, basierend auf den Untersuchungen durch das Doerner-Institut (Mirjam Neumeister, Eva Ortner, Jan Schmidt, 91-121). Zahllose filigrane Motive werden auf den Bildern erkennbar, die der Betrachter in der Ausstellung wegen der teils spiegelnden Verglasungen nicht wahrnehmen konnte. Von der Grundierung über Pinselskizzen statt Unterzeichnungen, dem Farbauftrag mit seinen Konturen und Kontrasten bis hin zum Prozess der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern wird jeder Arbeitsschritt eigens beschrieben und anschaulich gemacht. Bereits die Einleitung von Mirjam Neumeister mit dem Titel "Vom Zauber des Details" gibt einen Überblick über Brueghels Werk und Entwicklung, welche die Ausstellung unter Einbeziehung von Werken des Münchner Brueghel-Bestandes von Vater, Bruder, Sohn sowie Leihgaben sichtbar machte. Die Autorin hebt einzelne Bildtypen und Motive hervor und nennt neben der Behandlung von Datierungsfragen eine Händescheidung durch Gegenüberstellungen der Malweise des älteren und jüngeren Brueghel als Ziel (21-33).
Fast 50 prominente Experten der Brueghel-Forschung wirkten an dem Ausstellungsprojekt mit. Sowohl dem Fachpublikum als auch einer breiten Öffentlichkeit sollte 2013 überzeugend vermittelt werden: Jan Brueghel konnte viel mehr als Blumen malen. Die Beiträge des mit 450 Seiten üppigen und exzellent bebilderten Katalogs wollen Vorurteile überwinden - zumindest klingt es so, wenn wiederholt betont wird, dass Brueghel mit Rubens bei der "Madonna im Blumenkranz" nicht nur einfach zusammengewirkt habe (Klaus Schrenk, 17), sondern das Gemälde als "Teamarbeit in Vollendung" zu betrachten sei (Jan Schmidt, 109-126), als "Working Friendship" und als "konzeptuelle Gemeinschaftsproduktionen auf Augenhöhe". Letzteres betont Anne T. Woollett, die die Ergebnisse ihrer Ausstellung 2006 im Getty Museum hier auf Deutsch präsentiert (47-64). Jan Brueghel sei nicht nur auf das Kabinettstück zu reduzieren, er war (auch) in Italien, er malte auch Historien und er beherrschte eine fortschrittliche Landschaftsauffassung. Louisa Wood Ruby stellt in einem akribisch recherchierten Beitrag "Jan Brueghel d.Ä. als Zeichner" vor (35-45). Sie bietet eine genaue Chronologie der Entwicklung der Zeichnungen zu "überragender Eigenständigkeit", welche Grundlage "völlig neuer Landschaftsgenres" wurden (was sich nach der Lektüre gut beim Betrachten der Bilder nachvollziehen lässt) und die die "nordeuropäische Malerei nachhaltig beeinflussen sollten" (35).
Die Abfolge der Beiträge scheint keineswegs zwingend, gehören doch z.B. "Jan Brueghel d.Ä. und die Kunst der Zusammenarbeit" (Anne T. Woollett, 47-64) und "Zum Werkprozess" (Jan Schmidt, 109-126) eigentlich thematisch zusammen, finden sich im Buch aber an ganz unterschiedlichen Stellen. Die mangelnde Abstimmung der Beiträge ist sicher ein Nachteil für den Laien auch hinsichtlich der Erklärung der Fachtermini: Nachdem auf Seite 24 vom Pentiment gesprochen wird, findet man erst auf Seite 102 eine kurze Beschreibung von Pentimenti, um endlich auf Seite 123, Anm. 29, eine Definition des Begriffs zu erhalten. Auch ist das Verhältnis der Wiedergabe von Details für den visuellen Genuss des Ausstellungsbesuchers und der Informationsaufbereitung für den wissenschaftlichen Nutzer in dem Band nicht befriedigend gelöst. Interessiert man sich beispielsweise für alle im Katalog verfügbaren Daten zu dem Gemälde einer "Flusslandschaft" von 1602 (Kat. Nr. 41), so bedarf es einer mühsamen Suche: sie finden sich unter anderem auf den Seiten 100, 242, 418, 429. Auch gehen die Autoren der 96 Katalogeinträge - davon die Mehrzahl zu Gemälden Jan Brueghels, dessen hervorgehobene Rolle auch in der Ausstellung erkennbar war, - nie auf die Detailabbildungen aus den vorangehenden Aufsätzen ein.
Im Abschnitt "Tiermotive im Werk Jan Brueghels d.Ä." (73-74) finden sich in Thea Vignau-Wilbergs Artikel einige neue Aspekte, allerdings nicht ohne Fehler im Detail. So ordnet sie das bisher kaum beachtete Meerschweinchen von Jan - hier exemplarisch für die Tierdarstellung gewählt - in die Reihe früherer Darstellungen des Tieres von Hans Bol, Joris Hoefnagel und anderen ein. Jedoch werden die fleischigen, schwerfälligen Exemplare fälschlicherweise als Wildmeerschweinchen bezeichnet, obwohl diese schlank und einfarbig sind und in Europa damals noch unbekannt waren. Die mehrfarbigen Hausmeerschweinchen wurden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erstmals als Exoten aus Südamerika eingeführt. [1] Auch ist Hans Bols Zeichnung eines Meerschweinchens aus den 1570er-Jahren nicht "die erste bekannte Darstellung in Europa" (73). Vielmehr hat Konrad Gessner ein Exemplar bereits 1553 im Appendix seiner Icones abgebildet und 1554 im Nachtrag zum ersten Band der Historia animalium in lateinischer Sprache beschrieben. [2] Vignau-Wilberg gibt dagegen die Vermutung wieder, dass das Meerschweinchen 1551 beschrieben, jedoch mit dem Murmeltier verwechselt worden sei. [3] Hans Bols Darstellung ist zweifellos von hoher Qualität, geht aber vermutlich auf Hans Verhagen den Stummen zurück und hat Brueghel nicht als Vorlage gedient. [4] Auch die Behauptung, unter den mythologischen Darstellungen, die das Motiv des Meerschweinchens einbeziehen, sei "Brueghels beliebtestes Thema Orpheus, der die Tiere durch sein Spiel verzaubert" (73), lässt sich nicht halten, weil der Meister das Thema nur dreimal aufgegriffen hat. [5] Da das Meerschweinchen nie in 'eigentlichen' Landschaftsbildern auftaucht, ergeben sich weitere Widersprüche, wenn es heißt, sie "bevölkern mehrfach [...] die Landschaft" [6] oder Brueghel "nutzte fast jede Gelegenheit, sie in seinen Landschaften unterzubringen". Hier wären wohl Überlegungen zu Funktion und Bedeutung angebracht, wie auch zu der Frage, inwieweit sich die Darstellung und Malweise verschiedener Meerschweinchen-Typen für Datierungen und Händescheidungen heranziehen lassen.
Im Anhang finden sich die Ergebnisse dendrochronologischer Untersuchungen, gefolgt von Inventareinträgen und Angaben zur Provenienz der im Katalog behandelten Werke (416-428), nachdem ein Artikel zu den Sammlungen der Wittelsbacher im Wesentlichen nur die frühen Ankäufe der Mehrzahl der Werke durch das Adelshaus bestätigte (79-90).
Insgesamt liegt ein opulenter Band vor, der vor allem durch die Detailforschungen und -aufnahmen überzeugt. Bei der Wiedergabe der Forschungsergebnisse gelingt es durch die einleitend bereits gewürdigten minutiösen Bildbelege tatsächlich, wissenschaftlich genau und gleichzeitig optisch wirksam Qualität und Anspruch der Werke Jan Brueghels d.Ä. anschaulich zu vermitteln.
Anmerkungen:
[1] Sie können auch nicht als "Rasse" bezeichnet werden (Gerhard).
[2] Vgl. Urs B. Leu: Konrad Gesner und die Neue Welt, in: Gesnerus 49 (1992), 95.
[3] Als Beleg zitiert Vignau-Wilberg eine deutsche Ausgabe von Conrad Gesners "Thierbuch" von 1669 im Reprint von 1995.
[4] Vgl. Peter Dreyer: Zeichnungen von Hans Verhagen dem Stummen von Antwerpen. Ein Beitrag zu den Vorlagen der Tierminiaturen Hans Bols und Georg Hoefnagels, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen Wien 82/83 (1986/87), 132.
[5] Klaus Ertz / Christa Nitze-Ertz: Jan Brueghel der Ältere (1568-1625). Kritischer Katalog der Gemälde, Bd. 2, Lingen 2008, Kat. 378-380.
[6] Hervorhebungen durch die Verfasserinnen der Rezension.
Veronika Gerhard / Martina Sitt