Dieter H. Kollmer (Hg.): Militärisch-Industrieller Komplex? Rüstung in Europa und Nordamerika nach dem Zweiten Weltkrieg, Freiburg/Brsg.: Rombach 2015, VIII + 312 S., ISBN 978-3-7930-9808-9, EUR 24,80
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Am 8. und 9. November 2011 führte das damalige Militärische Forschungsamt in Potsdam eine internationale Tagung durch, die unter der etwas sperrigen Überschrift stand: "Für Frieden und Freiheit oder Shareholder Value und Auslastungsquote? Rüstung in Europa und Nordamerika nach dem Zweiten Weltkrieg". Die Ergebnisse sind in einem Sammelband unter dem etwas gefälligeren Titel "Militärisch-Industrieller Komplex?" (MIK) zusammengeführt worden. Mit Fragezeichen. Aber wofür steht dieses Fragezeichen? Gab es diesen MIK vielleicht gar nicht? Es gab ihn - in unterschiedlichen Formen! Der Begriff wurde durch den amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower populär. Der warnte in seiner Abschiedsrede am 17. Januar 1961, man müsse bei politischen Entscheidungen vor dem übertriebenen Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes auf der Hut sein: "We must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or not, by the military-industrial complex." (5) Der ehemalige General wusste, wovon er sprach: Die nicht vorhandene "Bomberlücke" hatte Mitte der fünfziger Jahre zu weitreichenden militärischen Entscheidungen in der Rüstungsindustrie geführt; 1960 hatte der demokratische Präsidentschaftskandidat John F. Kennedy im Wahlkampf vor einer "Raketenlücke" gewarnt, die es auch nicht gab.
Definiert man den MIK als Zweckgemeinschaft von Politik, Militär und Rüstungsmagnaten zur Beschaffung von Rüstungsgütern, so hat dieses Dreieck in den USA wie keinem anderen Land seit 1945 Einfluss auf Gesellschaft und Kultur ausgeübt, ohne allerdings Freiheit und Demokratie zu bedrohen. Holger H. Herwig von der University of Calgary zeigt, dass es dieses Zusammenspiel schon seit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gab, es nur noch nicht MIK hieß. Auch schon Präsident Woodrow Wilson war sich dieser Gefahr bewusst. 1916 äußerte er seine Bedenken gegenüber Marineminister Josephus Daniels so: "Falls wir in den Krieg eintreten, werden die Großunternehmen (Stahl, Öl, Transport, Rüstung) die entscheidende Rolle spielen, und nach dem Krieg wird die Regierung von ihnen abhängig sein." Herwig: "Big Business, in short, scared the president almost as much as Imperial Germany did." (34) 1917/1918 wurde der Grundstein für den MIK in den USA gelegt, der von Anfang an negativ besetzt war, nicht zuletzt wegen der "merchants of death", der "Händler des Todes", die angeblich für den Tod junger Menschen verantwortlich waren und denen es mehr um Profit als um Patriotismus gegangen war. (29)
Amerika konnte sich übrigens im Kalten Krieg über Jahrzehnte "Butter und Kanonen" leisten. Anders die Sowjetunion. Dort war der Staat der MIK! Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut in Moskau zeigt, dass es dort Geld nur für Kanonen gab und daher dringend notwendige Investitionen in die Volkswirtschaft nicht durchgeführt werden konnten. Damit war denn auch das Ende der Sowjetunion programmiert.
Neben den beiden Supermächten geht es in diesem Band um die "Mittelmächte" Frankreich (Florian Seiller) und Großbritannien (John Louth), um die Bundesrepublik (Dieter H. Kollmer) und die DDR (Torsten Dietrich), um die " kleinen und neutralen" Staaten wie Österreich (Erwin A. Schmidl), Schweden (Niklas Stenlås), Schweiz (Christoph Wyniger) und Dänemark (Søren Norby).
In Frankreich ist der MIK Staatsräson, fester Bestandteil der eigenständigen französischen Außen- und Sicherheitspolitik. Der MIK ist hier sehr viel stärker ausgeprägt als in Großbritannien, das schon 1963 amerikanische Polaris-Raketen akzeptierte - ganz im Gegensatz zu Frankreichs General Charles de Gaulle, der dankend abgelehnt hatte.
Dem Herausgeber Dieter H. Kollmer, Offizier und Historiker am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, ist wohl zuzustimmen, wenn er betont, dass es einen MIK im Sinne des Worts in der Bundesrepublik Deutschland nie gegeben hat. Verantwortlich dafür war und ist der sogenannte Rüstungsinterventionismus, d. h. es gibt öffentliche Ausschreibungen, und damit erhalten Militär und Industrie "einen vergleichsweise geringen Einfluss auf die grundlegenden Entscheidungen im eigentlichen Beschaffungsprozess" (21). Also kein MIK, aber auch keine Garantie dafür, dass es nicht gigantische Fehlentscheidungen geben kann. Bestes Beispiel dafür war zuletzt die viel zitierte Drohne, für die Hunderte von Millionen Euro verschwendet wurden.
Und wenn dann die Rüstungsindustrie Spitzenprodukte liefert - etwa den Panzer Leopard 2 -, gerät ein anderes, höchst umstrittenes Thema in den Fokus der Öffentlichkeit: der Waffenexport. Das wird dann oft mit dem MIK - zu Recht oder Unrecht - in Verbindung gebracht. Beispiel Österreich: Das Land hat zwar keinen Leopard 2, es gibt wohl auch keinen MIK, die Alpenrepublik ist aber weltweiter Exporteur von militärischem Spezialgerät. Da geht es dann immer auch um Arbeitsplätze - und damit gibt es in der Regel im öffentlichen Raum breite Zustimmung für die Rüstungsindustrie. Ähnliches gilt wohl auch für die Schweiz, für Schweden und Dänemark.
Im abschließenden Beitrag weist Bastian Giegerich vom International Institute for Strategic Studies in London (dem Institut, an dem Helmut Schmidt im Oktober 1977 seine berühmte Rede wegen der sowjetischen SS-20 gehalten hatte) auf die veränderten Rahmenbedingungen mit Globalisierung und Digitalisierung seit dem Ende des Kalten Krieges hin. Größere Rüstungsprojekte können in Europa kaum noch im Alleingang realisiert werden. Als Lösung empfiehlt er "Smart Defence and Pooling & Sharing" im multinationalen Diskurs von NATO und EU (294). Wie das im zerstrittenen Europa gelingen soll, bleibt eine spannende Frage.
Fazit: Es liegt ein höchst interessanter Sammelband vor, der den "Rüstungsinterventionismus" als Gegenentwurf zum MIK - zumindest in Europa - anbietet. Interessant wäre hier sicherlich auch ein Vergleich mit Israel, einem demokratischen Staat, in dem das Militär eine, wenn nicht die entscheidende Rolle spielt.
Rolf Steininger