Katja Lehmann / Michael Werner / Stefanie Zabold (Hgg.): Historisches Denken jetzt und in Zukunft. Wege zu einem theoretisch fundierten und evidenzbasierten Umgang mit Geschichte. Festschrift für Waltraud Schreiber zum 60. Geburtstag (= Geschichtsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart; Bd. 10), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2016, 286 S., ISBN 978-3-643-13374-8, EUR 34,90
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Der vorliegende Band ist der Geschichtsdidaktikerin Waltraud Schreiber zu ihrem sechzigsten Geburtstag gewidmet. Die Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichtsdidaktik an der Universität Eichstätt-Ingolstadt ist seit ihrer Dissertation zum Lebensweltbegriff in der Geschichtsdidaktik im Jahr 1995 auf den verschiedenen Feldern der Geschichtsdidaktik prominent in Erscheinung getreten. Dabei waren ihr die Verbindung von Theorie und Praxis, von geschichtsdidaktischen/theoretischen Entwürfen und unterrichtspraktischer Erprobung ein ebenso zentrales Anliegen, wie den Blick über die eigene Disziplin hinaus zu wagen.
Der Band mit insgesamt 19 Beiträgen gliedert sich in drei Kapitel, die jeweils unterschiedliche Themenschwerpunkte haben: theoretische Perspektiven, pragmatische Perspektiven und empirische Perspektiven.
Es handelt sich dabei um eine sinnvolle Struktur, die auch das fachdidaktische Wirken Waltraud Schreibers abbildet. Insgesamt ergibt sich ein breites Portfolio an Themen, das gleichwohl seinen Schwerpunkt in der didaktischen Theorie sowie der empirischen Lehr- und Lernforschung hat. Ausgangs- und Bezugspunkt der meisten Beiträge ist das didaktische Wirken Waltraud Schreibers, insbesondere aber das Kompetenzmodell "Historisches Denken" des internationalen FUER-Projekts (Förderung und Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins). Dies ist bei der Würdigung von Schreibers Leistung sicher gerechtfertigt, weil gerade dieses von ihr an zentraler Stelle mitentwickelte Modell besonders wirkmächtig war und ist.
Nachdem im Bereich der Theorie das Feld von einem Beitrag von Jörn Rüsen über den Nutzen der Geschichtstheorie für die Geschichtsdidaktik eröffnet wird, setzt sich Andreas Körber mit der Frage der Graduierung von Kompetenzen auseinander. Er plädiert für eine zweidimensionale Taxonomie zur Graduierung, die Kompetenzen und Sinnbildungstypen trennt. Dies wird am Beispiel der Fragekompetenz in einem Schema konkretisiert.
Eine Ausdifferenzierung des Modells "Historisches Denken" nimmt auch Monika Fenn vor. Sie schlägt eine Erweiterung der De-Konstruktionskompetenz um die "Analyse der tatsächlichen Wirkung und Rezeption" (57) von Narrationen vor und erläutert dabei, dass die Konstruktionshintergründe von Narrationen ebenfalls analysiert werden müssten, macht dabei allerdings nicht deutlich, wie dies beispielsweise im Geschichtsunterricht genau geschehen sollte. Der Beitrag von Florian Basel zu einer Theorie des Lehrer/innen-Handelns geht von der überzeugenden Annahme aus, dass die Ermöglichung von historischem Lernen im Unterricht vom eigenen historischen Denken der Lehrkraft abhängt. Daraus wird ein Ansatz für ein Geschichtslehrer/innen-Kompetenzmodell entwickelt, das aber hier nur in Ansätzen umrissen wird und einer Konkretisierung bedürfte. Der Beitrag von Wolfgang Hasberg mit dem Titel "Warum wir den Geschichtsunterricht abschaffen müssten..." nimmt als einer der wenigen Beiträge keinen konkreten Bezug auf das FUER-Modell. Er geht in einem kulturpessimistischen Grundton von Annahmen über die Wirkung des Geschichtsunterrichts aus, die allerdings empirisch nicht wirklich gesichert sind, und wirft die Frage auf, ob der Geschichtsunterricht überhaupt noch sinnvoll ist, weil dieser vielleicht eher positivistische Sichtweisen als historisches Denken fördert. Wenn auch Hasbergs Pessimismus teilweise zu weit geht und seine Kritik am Geschichtsunterricht insgesamt zu pauschal ist, regen seine Thesen zum Nachdenken an (97-98).
Die Beiträge in den Themenschwerpunkten "Pragmatik" und "Empirie" zeigen, wie breit das Kompetenzmodell von FUER rezipiert und empirisch erprobt wurde. Entsprechend greifen die Beiträge unterschiedliche Bereiche und Aspekte historischen Lernens auf. Im Kapitel zu den pragmatischen Perspektiven spiegelt sich die Heterogenität der Themen besonders wider, allerdings auch qualitative Unterschiede. Beatrice Ziegler macht dort einen durchaus interessanten Vorschlag für die Konzeption von Lehrmaterial zum Thema Schweiz und Erster Weltkrieg mit dem Fokus auf die Kompetenz der "De-Konstruktion", bleibt allerdings sehr vage. Der folgende Beitrag von Marcus Ventzke, Florian Sochatzy und Bernadette Thilen stellt dann das digitale Schulbuchprojekt mBook vor, das von Waltraud Schreiber mitentwickelt wurde, ohne allerdings zu benennen, was das Buch eigentlich ausmacht und wie die anspruchsvoll formulierten Zielsetzungen des mBooks praktisch umgesetzt werden sollen. Der Aspekt der Bilingualität wird in den beiden folgenden Beiträgen aufgegriffen. Einen interessanten Einblick in die praktische Nutzung des FUER-Kompetenzmodells im Bereich der Lehrerausbildung im Studium und im Referendariat am Beispiel Dresdens bietet der Beitrag von Sylvia Mebus. Deutlich wird dort, wie gewinnbringend die stringente Umsetzung eines Kompetenzmodells für die Lehrerausbildung und damit auch für die Ermöglichung von historischem Lernen sein kann.
Gerade im letzten Themenfeld "Empirische Perspektiven" gibt der Band mit einigen Beiträgen gewinnbringende Impulse für die Lehr-Lernforschung. Ein Beispiel hierfür ist der Beitrag von Bodo von Borries, der eine britische Studie von Lee und Ashby in abgewandelter Form in Deutschland durchführte und dabei beschreibt, wie schwierig sich Übernahmen gestalten können und wie stark empirische Forschung auch von eher misslungenen Versuchen profitieren kann. Sehr interessant ist auch der Beitrag von Dennis Erk und Christine Pflüger, die sich mit der Frage befassen, inwiefern die Analyse von Geschichtskultur im Studium für Lehramtsstudenten ergiebig sein kann, weil sie dadurch für deren Bedeutung sensibilisiert werden und dies auch als zentralen Aspekt für ihre spätere Lehrtätigkeit einschätzen. Der Beitrag von Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein bietet wichtige Erkenntnisse für den Einsatz von Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Abgerundet wird der Themenschwerpunkt Empirie von Johannes Meyer-Hamme, der auf einer grundsätzlichen Ebene über empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik nachdenkt und dabei hervorhebt, dass empirische Befunde stärker international vergleichend angelegt werden müssten, was er als Desiderat ausmacht. Außerdem müssten sie daraufhin befragt werden, inwiefern Erinnerungsmilieus und Geschichtskultur sie beeinflussen.
Der Bezug zu anderen Kompetenzmodellen wird in dem Band leider nicht hergestellt, was schon alleine deshalb verwundern muss, weil im deutschsprachigen Raum eine Zahl von Alternativmodellen existiert. Auch kritische Stimmen finden in dem Band leider keinen beziehungsweise kaum Raum, was Chancen der Überprüfung und Weiterentwicklung der Arbeit Waltraud Schreibers im konstruktiven Sinne ungenutzt lässt.
Die Festschrift würdigt die Breite der Tätigkeit Waltraud Schreibers und ihre Wirkung angemessen, was auch dadurch gewährleistet wird, dass die Autoren langjährige Wegbegleiter, Partner sowie gegenwärtige oder ehemalige Mitarbeiter sind. Insgesamt werden interessante Einblicke in die praktische Umsetzung/Erprobung von geschichtsdidaktischer Theorie geboten, die der empirischen Lehr-Lernforschung Impulse geben können. Somit handelt es sich bei der Festschrift weniger um einen Rückblick, sondern eine Würdigung Waltraud Schreibers, die Anregungen für die Zukunft bereitstellt und damit dem Titel "Historisches Denken jetzt und in Zukunft" gerecht wird.
Steffen Barth