Tim Szatkowski: Die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei 1978 bis 1983 (= Zeitgeschichte im Gespräch; Bd. 23), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, 154 S., ISBN 978-3-11-044453-7, EUR 16,95
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Alles schon mal dagewesen? So könnte man hinsichtlich der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei urteilen, dies trotz der grundlegenden politischen Änderungen seit 1990. Aktuell ist die Frage im Jahr 2017 allemal, die Palette an Problemen ist reichhaltig und in vielerlei Hinsicht nicht neu. Das Buch von Tim Szatkowski kommt zum richtigen Zeitpunkt.
Das Werk konzentriert sich auf die Jahre vor und nach dem Militärputsch von 1980, hat damit einen zeitlich begrenzten Fokus und ist daher eher eine Teilstudie, weniger eine Gesamtanalyse. Der Autor ist sich dessen bewusst, verweist auch darauf, dass die Ursachen der Problemlagen viel weiter zurückreichen. Die Analyse zeigt insgesamt die entscheidenden Aspekte und Dimensionen der deutsch-türkischen Beziehungen auf und bietet damit eine sehr gute historiografische Folie für die Zeit davor und danach.
Gemäß den inzwischen etablierten Standards der Geschichtswissenschaft beleuchtet Szatkowski nicht nur die internationale ("diplomatische") Perspektive, sondern bezieht die Innenpolitik mit ein und verknüpft diese mit der Außenpolitik. Derlei ist gerade in diesem Themenbereich hier essentiell, da sonst nur Teilwahrheiten präsentiert werden könnten.
Im Zentrum standen (und stehen bis heute) die Türken in der Bundesrepublik, die seit den Sechzigerjahren als "Gastarbeiter" ins Land geholt wurden und seit den Siebzigerjahren zunehmend als Problemfaktor betrachtet wurden, da infolge der Wirtschaftskrise der Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften zurückging, gleichzeitig kulturelle, religiöse und auch politische Konflikte zutage traten, hier nicht zuletzt infolge der inneren Konflikte der türkischen Gemeinde und Problemen mit anderen Gruppen aus der Türkei, hier insbesondere den Kurden. Die innenpolitischen Konflikte, die 1980 zum Militärputsch führten, bildeten sich auch in Deutschland ab.
Die Gemengelage war komplex für die Bundesregierung. Die Türkei bildete einen entscheidenden Stützpfeiler der NATO an der Südostflanke, dies nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass im Zuge der Auflösung des britischen Weltreiches etliche Regionen und Länder unabhängig wurden und sich dem Ostblock annäherten. Das Schwesterbündnis zur NATO, die CENTO (Bagdadpakt), war bereits kurze Zeit nach ihrer Gründung tot, da ein entscheidendes Mitglied, der Irak, ausschied und sich Moskau zuwandte. Die strategisch-politische Lage blieb für die Bundesrepublik der wesentliche Faktor im Umgang mit der Regierung in Ankara.
Deren Probleme waren immens: innere Destabilisierung, bürgerkriegsartige Zustände, die Wertung von Gewalt allenthalben als legitimes politisches Mittel, zunehmende Re-islamisierung, eine massive wirtschaftliche Krise und Zerfall der staatlichen Leistungsfähigkeit (u.a. auch Militär). Der Putsch beseitigte zwar die offenen Konflikte, was auch von der Bundesregierung und weitgehend auch von der deutschen Öffentlichkeit eher positiv gesehen wurde, löste die strukturellen Verwerfungen und Probleme aber nicht wirklich.
Vor diesem Hintergrund hatte Ankara auch gar kein Interesse, die Rückkehr von Türken aus der Bundesrepublik zu forcieren - ein wesentliches Anliegen der Bonner Regierung, die den seit dem Jahr 1973 bestehenden Anwerbestopp durch weitere Maßnahmen (z.B. finanzielle Anreize für die Rückkehr) ergänzte. Besonders heikel waren der Familiennachzug und die im Assoziationsabkommen von 1963 zwischen der EWG und der Türkei vertraglich festgelegte Einführung der Freizügigkeit für türkische Staatsbürger - mutatis mutandis ein nach wie vor überaus aktuelles Thema. Das zweite Kernthema bildeten die umfangreichen wirtschaftlichen und finanziellen Hilfen, die die Bundesrepublik auch zur Stabilisierung der türkischen Verteidigungsfähigkeit leistete und damit NATO-weit zeitweise sogar die Führungsrolle einnahmen. In Bonn hoffte man, dass man hiermit über einen Hebel zur Beeinflussung der Türkei gerade auch in der Frage der Türken in Deutschland verfügen würde. Allein, dies trog. Auch die türkische Militärregierung dachte nicht daran, entsprechenden deutschen Forderungen im Grundsatz nachzugeben. Als dann klar wurde, dass z.B. die Freizügigkeitsregelung nicht realisiert werden konnte, stellte Ankara zum Entsetzen von Genscher im Jahr 1987 einen Antrag auf Beitritt zur EWG. Dieser wurde zwar 1989 abgelehnt, stellt aber letztlich den Auftakt zu den Bemühungen der Türkei um Mitgliedschaft, die bis heute andauern und mit erheblichen Problemen verbunden ist.
Die sozial-liberale Koalition befand sich in einem erheblichen Zwiespalt und geriet öffentlich je stärker unter Druck, je länger die Militärregierung in der Türkei im Amt war und keinerlei Anstalten machte, die diktatorischen Maßnahmen, inklusive Folter, wirklich zu beenden. Die deutsche Öffentlichkeit begann zunehmend kritischer zu werden. Indes ging die Regierung Schmidt - Genscher nicht von den Hilfen ab. Man hatte zu gewärtigen, dass der eigene Handlungsspielraum im Verhältnis zur Türkei vor dem Hintergrund des Kalten Krieges gar nicht so groß war.
Letztlich war die alte Koalition trotz einiger Änderungen in der Rhetorik politisch gar nicht so weit von der neuen Regierung Kohl - Genscher entfernt, obwohl in Letzterer dann stärker Hardliner zum Zuge kamen (Friedrich Zimmermann). Bonn fuhr einen sehr moderaten Kurs gegenüber der Türkei und geriet trotz der wirtschaftlich zunehmend führenden Stellung in der EWG zeitweise ins Abseits. Dort begann man, völkerrechtliche Schritte gegen die Militärregierung zu unternehmen.
Am Ende spielten, und hier kommt Szatkowski zu einem klaren Urteil, realpolitische Erwägungen die entscheidende Rolle. Dies gilt auch für die Innenpolitik. Erst als die Grünen im Bundestag auftraten, mehrten sich die kritischen Stimmen in der SPD - man hatte einen politischen Konkurrenten am linken Flügel erhalten. Humanitäre Überzeugungen bildeten vor allem ein Element der politischen Kommunikation, weniger Entscheidungselement. Dies gilt auch für Hans-Dietrich Genscher, dessen Rolle hier differenziert betrachtet wird. Der Betrachter fragt sich, ob die Idealisierung im Zuge der Wiedervereinigung ("Gensch-Man") wenigstens insgesamt gesehen nicht doch ein wenig übertrieben war.
Insgesamt legt Szatkowski mit dieser Arbeit eine wertvolle, wenn auch zeitliche begrenzte Grundlagenanalyse vor, wenn er auch einige wichtige militärgeschichtliche Arbeiten gerade zum strategisch-politischen Hintergrund nicht berücksichtigt. Insbesondere ein bis heute wesentlicher Problempunkt, die Frage der Minderheiten in der Türkei und der Gewährung von Asyl, kommt zur Sprache (Beispiel: Selbstmord des in Abschiebehaft befindlichen türkischen Asylbewerbers Cemal Altun). Hier standen und stehen insbesondere die Kurden im Fokus. Das Auswärtige Amt, auch deren Vertreter vor Ort, insbesondere der nicht immer differenzierende und teils in Stereotypen denkende Botschafter Dirk Oncken, hatten wenig Verständnis für die kurdischen Belange, da ein Teil der politischen Organisationen politisch sehr weit links standen und mit dem ideologischen Gegner paktierten. Dieses Bild hat sich inzwischen, nach Ende des Kalten Krieges und der Entstehung des IS, teils stark gewandelt. Die Kurden werden heute trotz des Fortbestehens der PKK als Verbündete betrachtet.
Die gesamte Thematik ist bis heute praktisch gleichgeblieben, wenn auch mit neuen Detailfragen und unter gewandelten Rahmenbedingungen. Die Arbeit von Szatkowski bietet hier vielfach zur weiteren Reflexion anregende Punkte. Einer ist nicht gerade beruhigend: ist die Regierung Erdoğan und ihr Handeln gar nicht einmal so sehr ein neues Phänomen, sondern lediglich ein weiterer Schritt auf dem langen Weg der Türkei weg von Idealen Atatürks hin zu einem islamischen Staat? Die Geschichte der Militärputsche in der Türkei (1960 - 1971 - 1980 - 1997 - 2016) wäre dann neu zu interpretieren.
Bernd Lemke