Katharina Bechler / Dietmar Schiersner (Hgg.): Aufklärung in Oberschwaben. Barocke Welt im Umbruch, Stuttgart: W. Kohlhammer 2016, 456 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-17-030248-8, EUR 29,99
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Ein reichlich mit Bildern ausgestatteter Band auf Kunstdruckpapier ist hier anzuzeigen, der die Ergebnisse einer Ravensburger Tagung zusammenfasst. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Lektüre macht Spaß, weil sie zahlreiche Beziehungen erschließt, die man aus einem einzelnen Aufsatz nicht gewinnen könnte. Diese Beziehungen überspringen oder durchschneiden die Einteilung des Bandes in die großen Themen "Philosophie, Literatur und Bibliotheken" (also Schriftkultur im engeren Sinne), "Kunst und Musik", "Kirche und Pädagogik", "Reichsstädte", "Territorien". Selbstverständlich ist Christoph Martin Wieland Thema in einigen Aufsätzen besonders des ersten Kapitels. Der Beitrag von Peter Blickle gleich zu Anfang macht deutlich, wie Wieland und Rousseau in beispielhaften Werken (Die Abderiten / Contract Social) Erfahrungen aus ihren jeweiligen Städten verarbeiteten und die Stadtverfassungen durchaus würdigten. Im Kapitel "Reichsstädte" begegnet man Biberach wieder - Schlözer schildert seine Eindrücke aus Aufenthalten von wenigen Tagen (!) in süddeutschen Reichsstädten fast durchweg positiv, wie Barbara Rajkay in ihrem Aufsatz zeigt. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, das Aufklärer-Klischee von der Rückständigkeit der Reichsstädte zu teilen und noch zu verbreiten. Wieland selbst wiederum wandelte sich (so der Beitrag von Andrea Riotte im Kapitel "Literatur") in seinen Biberacher Jahren sowohl persönlich als auch literarisch und politisch: Die traditionalistische sogenannte Plebejerpartei hatte ihn aufgrund seines eher frommen Frühwerks als Wunschkandidaten in den Stadtrat nominiert; doch der Dichter enttäuschte seine Förderer sehr bald, verhalf dem Schwager der Sophie von La Roche zum Bürgermeisteramt und setzte sich für den aufklärerischen Pfarrer Johann Jakob Brechter ein. Zwar scheiterten seine Bemühungen, ihm in Biberach eine Stelle zu verschaffen, aber die Beziehung zwischen Brechter, den La Roches und Wieland trug literarisch vielfach Früchte; die Religions- oder vielmehr Kleruskritik in den "Abderiten" verarbeitet den Streit zwischen Aufklärung und Traditionalismus. Dem Werk der Sophie von La Roche ist der Aufsatz von Katja Schneider gewidmet, wobei nicht die Beziehung zu Wieland im Vordergrund steht, sondern die zu dem "Musenhof" in Warthausen, den Graf Friedrich von Stadion unterhielt. Zwei der Aufsätze zum Thema der Schriftkultur (Magda Fischer, Franz Schwarzbauer) beschäftigen sich mit Bibliotheken und suchen Ansätze aufklärerischen Wirkens nachzuweisen - Ansätze, weil die großen Namen der Aufklärung in den Beständen durchweg fehlten. Aufgeschlossenheit für neuere Tendenzen zeigen sich daher eher daran, dass nichttheologische, insbesondere naturphilosophische und naturwissenschaftliche Werke in größerem Maße angeschafft wurden.
Ein Kapitel "Kunst und Musik" im Zusammenhang mit Aufklärung erscheint auf den ersten Blick merkwürdig - wie kann man von den, sit venia verbo, außerschriftlichen Künsten einen Beitrag zur Aufklärung erwarten? Die Herausgeber und die Vortragenden verstanden das Thema "Aufklärung" offenbar als Abkehr von barocken Formen, Idealen und Vorlieben. Das zeigt Erich Franz anhand der klassizistischen Bauten von Pierre Michel d'Ixnard in Oberschwaben - das Fachvokabular macht die Lektüre allerdings für Nichtfachleute etwas schwierig. Wolfgang Augustyn schreibt über den Maler Januarius Zick, der Aufträge für oberschwäbische Klöster ausführte. Nach Augustin vollzog auch Zick eine Abwendung vom Barockstil, nämlich gewissermaßen "hinaus" aus dem symbolischen Kosmos, der Ordnung von Verweisungen, wie sie die barocken Kunstformen gekennzeichnet hatte. Stattdessen sollten die Sujets, trotz der geistlichen Themen, stärker in ihrer individuellen Eigenart zur Geltung kommen. Dieses Achten auf das Individuelle und das "Genie", verbunden mit Lichtsymbolik, zeigt anschließend Bettina Baumgärtel in einem Beitrag über Angelika Kauffmann, wobei sie zu Recht die Selbst-Inszenierung der Frau als Genie als ungewöhnlich herausstellt. In der Musik zeigt sich Nicht-mehr-Barockes (nach dem Beitrag von Michael Gerhard Kaufmann) in der allmählichen Aufgabe des Generalbasses und der polyphonen Strukturen sowie im Einbeziehen der Klarinette in den Klang des Orchesters. Als "Fiat lux! in der Musik" (194) interpretiert der Verfasser das Oratorium "Die Schöpfung" von Joseph Haydn, in dem das Aufstrahlen von Licht "geradezu passiert" (ebd.). In diesem Zusammenhang begegnen wir übrigens Biberach wieder, wo der städtische Musikdirektor Justin Heinrich Knecht das Werk aufführte. Im Übrigen widmet sich der Aufsatz einigen wenig bekannten Klosterkomponisten. Eine gewissermaßen soziale und "psychische" Abwendung vom Barockstil zeigt der Aufsatz von Dietmar Schiersner im Kapitel "Kirche und Pädagogik" anhand der Reformen in süddeutschen Damenstiften: Das barocke pädagogisch-religiöse Ideal hatte darin bestanden, eine Haltung des Betens einzuüben, die tendenziell das gesamte Leben in allen seinen Beziehungen prägen sollte. Die Tendenz der Reformen ging dagegen in die Richtung von "Individualisierung" sowie "Departmentalisierung von Raum und Zeit" (243): Das lateinische gemeinschaftliche Breviergebet wurde abgeschafft; die einzelne Ordensfrau bekam mehr Freiheit, ihre Zeit zu gestalten - was auf längere Sicht auch die Autorität der Äbtissin erschüttern konnte -, und das gemeinschaftliche Gebet wurde auch theologisch abgewertet zugunsten individueller Frömmigkeit oder "gemüthserhebung zu gott" (255). In dieser Perspektive wurde nicht nur die Gemeinschaft zunehmend weniger wichtig, es wurde auch das Religiöse stärker zu einem Sonderbereich des Lebens, speziellen Räumen und Zeiten vorbehalten. Vielleicht steckt eine dezidierte Abwendung von "barocken" Haltungen sogar im Leben des Benediktiners und späteren Prälatenkritikers Franz Übelacker, das Edwin Ernst Weber im gleichen Kapitel anhand archivalischer Zeugnisse rekonstruiert: Der rührige Mönch, der zunächst im Kloster durchaus Karriere gemacht und sich als juristischer Vertreter und Bauherr für sein Kloster bewährt hatte, machte sich durch kompromissloses Durchsetzen seiner Ansichten bei Bauern und offenbar auch Mitbrüdern so unbeliebt, dass er 1782 das Kloster verließ. In verschiedenen Stellungen wurde er wegen seines Arbeitseifers anerkannt, aber auch wegen Verstößen gegen ständische und andere Regeln angefeindet - nicht nur ein "schwieriger Charakter" (235), sondern auch ein schwieriger Aspekt der Aufklärungsbewegung. Vielleicht kein Zufall, dass man der "schwierigen" Kombination aus Aufklärungsbestrebungen, Reformeifer, Frömmigkeit und autoritärem Durchgreifen im Kapitel "Territorien" in der Gestalt des württembergischen Herzogs Karl Eugen wiederbegegnet - Eberhard Fritz lässt die Figur bewusst schillern und resümiert, dass man sich in Bezug auf sie "vor Simplifizierungen hüten" müsse (416).
Die Kapitel "Reichsstädte" und "Territorien" fassen, wie ihr Name sagt, Studien zu einzelnen Herrschaftsgebieten und gewissermaßen ihrem Aufklärungs-Potential zusammen. Hervorgehoben sei aus dem Kapitel "Reichsstädte" der umfangreiche Aufsatz von Wolfgang Petz über "Die bürgerliche Öffentlichkeit der Spätaufklärung in Allgäuer Reichsstädten". Ausgehend von Ermittlungen gegen einen Memminger Buchhändler wegen des Vertriebs missliebiger Schriften entwickelt der Verfasser einen Überblick über Formen aufklärerischer Kommunikationsstrukturen, der von persönlichen Begegnungen und Briefen über Buchhandlungen, Leihbüchereien, Zeitungen und Zeitschriften bis zu Freimaurerlogen reicht, deren Netz in einer Karte vorgestellt (340) und in einem Anhang mit Mitgliederlisten einschließlich Beruf, Aufenthalt und, falls ermittelbar, Lebensdaten dokumentiert wird (344-355). Der Aufsatz über Ulm von Simon Palaoro beschäftigt sich vor allem mit den Überlegungen zu einer Reform der Stadtverfassung. Im Kapitel "Territorien" hat der Aufsatz von Brigitte Mazohl über die Habsburgermonarchie mehr den Gesamtstaat als die Region Oberschwaben im Blick, wenn vorwiegend am Beispiel einzelner Personen vom Einwirken aufklärerischen Gedankenguts berichtet wird. Den zeitlich wie räumlich stimmigen Abschluss bildet der Aufsatz von Esteban Mauerer über Bayern, in dem nach einem großen geschichtlichen Überblick vor allem die Eingliederung der Neuerwerbungen in den bayerischen Staat geschildert wird. Das große Projekt, einen einheitlichen Staatsverband zu schaffen, verweist zurück auf die Pläne einer Nationalkirche, die in dem Aufsatz von Manfred Wettlauff über Ignaz Heinrich von Wesenberg gewürdigt worden waren.
Insgesamt ist der Band im besten Sinne mehr als die Summe seiner Teile: Nicht nur ein buntes Mosaik regional interessierender Beiträge ist zustande gekommen, sondern in ihrer wechselseitigen Verflechtung und Verweisung ein eigenständiger Beitrag zur Physiognomie der Aufklärung.
Esther-Beate Körber