Gesa zur Nieden / Berthold Over (eds.): Musicians' Mobilities and Music Migrations in Early Modern Europe. Biographical Patterns and Cultural Exchanges (= Mainz Historical Cultural Sciences; Vol. 33), Bielefeld: transcript 2016, 428 S., ISBN 978-3-8376-3504-1, EUR 32,99
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Die Mobilität von im weitesten Sinn mit Musik befassten Menschen gilt nicht nur in der Frühen Neuzeit als ein Garant für den kulturellen Austausch. Groß ist beispielsweise die Zahl derjenigen Komponisten, die sich aus den Gebieten nördlich der Alpen auf den Weg nach Italien machten, um im gelobten Land der Musik die neuesten Entwicklungen an der Quelle zu studieren. Man wurde - wie Heinrich Schütz - von seinem Dienstherrn zum Studium dorthin gesandt, man folgte - wie Georg Friedrich Händel - einer Einladung oder man suchte - wie Johann Rosenmüller - nach einer Existenzgrundlage. Mobilität ist keineswegs immer freiwillig, im Gegenteil dürfte die Mehrzahl der Musiker gezwungen gewesen sein, auf Reisen zu gehen. So zumindest formuliert es Gesa zur Nieden überzeugend im einleitenden Beitrag zu diesem Sammelband, der die Ergebnisse eines Workshops aus dem April 2014 dokumentiert, der im Rahmen des Forschungsprojekts "Music Migrations in the Early Modern Age: the Meeting of the European East, West and South", kurz MusMig, in Mainz stattgefunden hat. Zur Nieden nennt zahlreiche Beispiele, die unterschiedlichste Arten einer Musikermobilität vorstellen, die das hohe Potenzial der Mobilitätsforschung am Beispiel von Musikern nachdrücklich deutlich machen. Gleichzeitig führt sie aus, dass die mehrheitlich unfreiwillige Mobilität die Migration als Ziel hat, dass also die im Titel des Sammelbandes nebeneinanderstehenden Begriffe kausal verknüpft sind - wenngleich sich dem Rezensenten das sprachlich sperrige "music migrations" damit noch nicht erschließt.
Die Herausgeber haben die weiteren 19 Beiträge des Bandes in drei thematischen Blöcken zusammengefasst. Der erste sucht nach kulturhistorischen Annäherungen an die Musikermigration im Spannungsfeld von kollektiver und individueller Biografie. Colin Timms widmet sich dem Komponisten und Diplomaten Agostino Steffani mit seinen biografischen Stationen Padua, München, Hannover und Düsseldorf. Timms differenziert dabei zwischen Steffanis Migrationen - Wechsel des Lebensmittelpunkts durch Wechsel des Dienstherrn -, seinen großen Besuchen - Ortswechsel von längerer Dauer - und seinen Reisen. Ebenfalls mit einer Individualbiografie beschäftigt sich Joachim Kremer, nämlich mit der von Konrad Hagius, eines 1550 in Rinteln geborenen Komponisten, der seine beruflichen Stationen überaus häufig wechselte. Kremer stellt schlüssig eine Verbindung her zwischen der Heterogenität von Hagius' kompositorischem Schaffen und der Heterogenität seiner Lebensumstände an verschiedenen Orten seines Wirkens. Britta Kägler kehrt die Blickrichtung gewissermaßen um. Sie konzentriert sich auf den Münchner Hof als Ausgangspunkt wie auch als Ziel von Musikermobilität unter dem Stichwort des Wettbewerbs. Für den Zeitraum von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts legt sie dar, dass erzwungene oder freiwillige Mobilität in erheblichem Maß davon abhängig ist, wie erfolgreich dauerhafte familiäre bzw. persönliche Netzwerke an einem Ort etabliert werden können. Berthold Over schließt eng an diesen Beitrag an, indem er die Verlegungen der Münchner Hofhaltung zwischen 1690 und 1715 zum Thema seines Beitrags macht und nach deren Folgen für die Mitglieder der Hofkapelle fragt. Over macht deutlich, wie das jeweilige Abhängigkeitsverhältnis der Musiker zur Hofkapelle Ausmaß und Art ihrer Mobilität bestimmte. Mit einem Fokus auf den Komponisten Kaspar Förster d.J. lenkt Barbara Przybyszewska-Jarmińska den Blick auf die polnischen Königshöfe des 17. Jahrhunderts, gefolgt von dem Beitrag von Alina Żórawska-Witkowska, deren Schwerpunkt die schillernde Biografie des Geigers Pietro Mira ausmacht. Beide Beiträge referieren die Fallstudien zuverlässig, bleiben dabei aber dem Deskriptiven verhaftet. Dies gilt ebenso für Vjera Katalinić, die sich mit Luca Sorgo (oder Luka Sorkočević) beschäftigt, einem in Dubrovnik geborenen Komponisten und Diplomaten, der zeitweilig in Rom lebte und über ein weit verzweigtes Netzwerk von Bekanntschaften in Musikerkreisen verfügte. Ein wesentlicher Teil des MusMig-Projekts ist die Erstellung einer Datenbank, in der solche Netzwerke wie auch die sie begründenden Mobilitäten und Migrationen abgebildet werden können (http://www.musmig.eu/database/). Der abschließende Beitrag dieses ersten thematischen Blocks, verfasst von Berthold Over und Torsten Roeder wirft einen Blick hinter die Kulissen dieser Datenbank und ihrer Vernetzung mit dem verwandten Projekt MUSICI (http://www.musici.eu/). Verschiedene Frageperspektiven und Visualisierungen in diesem Beitrag machen ihn zu einer anregenden Lektüre - leider scheinen viele der geplanten "inspiring visualizations" (200) auf den genannten Internetseiten zumindest für Otto Normalsurfer noch immer nicht verfügbar zu sein.
Der zweite Themenblock befasst sich mit den Quellen der Musikermigration in städtischen und höfischen Kontexten. Norbert Dubowy schlägt diesbezüglich eine Differenzierung zwischen Quellen, die Anwesenheit dokumentieren, und solchen, die Bewegung dokumentieren, vor. Deutlich wird, dass die Heterogenität der Quellen selbst in einer solchen Typisierung immer noch eine erhebliche Herausforderung für eine standardisierte Abbildung in einer Datenbank bedeutet. Rashid-Sascha Pegah rekonstruiert die Biografie des Sängers Jonas Friederich Boenicke, der an zahlreichen Höfen hauptsächlich in Mitteldeutschland auftrat, ohne jemals eine dauerhafte Stellung erlangen zu können. Eine Quellengattung, auf die Pegah erfolgreich rekurriert, ist das höfische Empfehlungsschreiben. Der Kastrat Filippo Balatri ist Gegenstand des Beitrags von Jan Kusber und Matthias Schnettger, in dem die Musikermigration nach Russland in den Blick genommen wird. Die jüngere Fassung von Balatris Autobiografie wird daraufhin untersucht, wie Balatri mit den Augen eines Fremden Moskau und die Moskowiter und Moskowiterinnen beschreibt. Als Teil 1 und 2 sind die verbleibenden Beiträge dieses Blocks aufeinander bezogen, in denen es um italienische Opernsänger und Opernsängerinnen in mährischen Quellen geht. Jana Spáčilovás Interesse gilt anhand von erhaltenen Opernlibretti den Solisten von Opernproduktionen in Brno, Holešov, Kroměříž und Vyškov zwischen etwa 1720 und 1740, Jana Petruková schaut für den gleichen Zeitraum auf die Sänger und Sängerinnen des Wiener Kärntnertortheaters, die im Briefwechsel von Georg Adam Hoffmann mit Johann Adam von Questenberg genannt werden.
Der dritte Block kreist um die Verbreitung und den Transfer von Musik und Musiktheorie in Kopien, Adaptionen und Referenzen. Rudolf Rasch nimmt die ausländischen Komponisten in den Blick, die für den Amsterdamer Verleger Estienne Roger gearbeitet haben. Dabei differenziert er zwischen lokalen holländischen Komponisten, ausländischen Komponisten, die in Amsterdam Station gemacht haben, und ausländischen Komponisten, die von Haus aus bei Roger publiziert haben. Michael Talbot beschäftigt sich mit Francesco Scarlatti, dem jüngeren Bruder des weitaus bekannteren Alessandro, und seinem Weg nach Großbritannien. Neben eigenen Kompositionen führte Francesco Werke seines Bruders und seines Neffen Domenico mit sich, die der findige Komponist Charles Avison geschickt für den lokalen Geschmack wie die lokalen Möglichkeiten adaptierte. Aneta Markuszewska untersucht die Bedeutung von Maria Clementina Sobieska Stuart für die Verbreitung von Opernlibretti, wobei sie sich auf die "Adelaide"-Opern konzentriert. Gegenstand von Metoda Kokoles Aufsatz ist die Sammlung italienischer Musikalien der Gräfin Josepha von Attems, die in den Wirren nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Schloss von Slovenska Bistrica in das Provinzarchiv von Maribor gelangt ist. Zumindest teilweise waren die Werke wohl von Graf Ignaz von Attems während einer Italienreise gekauft worden. Stanislav Tuksar konzentriert sich auf die musikalischen Schriften des katholischen Theologen und frühen Verfechters eines Panslawismus Juraj Križanić. Križanić, der in Graz, Bologna und Rom studiert und sich später lange in Russland wie auch wiederum in Rom aufgehalten hat, hatte, so Tuksar, ein enzyklopädisches Interesse an der Musik seiner Zeit und hielt das für ihn jeweils Interessanteste schriftlich fest: in Rom die Musiktheorie, in Russland die ethnografischen und soziologischen Aspekte der Musik. Der abschließende Beitrag von Lucija Konfic knüpft an den vorangegangenen Text an, indem er die musiktheoretischen Traktate von Giuseppe Michele Stratico in den Blick nimmt, dem als Josip Mihovil Stratiko geborenen italienischen Geiger und Musiktheoretiker des 18. Jahrhunderts. Besonderes Interesse gilt dabei den Referenzen zu anderen Schriften bei Stratico.
In der Summe hinterlässt dieser Sammelband einen mehr als gemischten Eindruck. Während in einigen Beiträgen - vor allem bei Timms und Kremer - grundsätzliche theoretische Überlegungen zu Terminologie und Phänomen der Migration zu finden sind, erschöpfen sich viele Beiträge im Referat verschiedener Ergebnisse rein philologischer Studien, ohne diese Ergebnisse einer tiefer greifenden Analyse zu unterziehen. Nicht wenigen Beiträgen scheint es sogar an einer erkenntnisleitenden Fragestellung zu fehlen, sodass kein klares Bild dessen entsteht, was die betreffenden Autoren und Autorinnen mit der jeweiligen Information anfangen, dass Personen zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten in möglicherweise unterschiedlichen Funktionen gewirkt haben. Eigentlich hätten zur Niedens Einleitung sowie Overs und Roeders Blick auf die Datenbanken hier ausreichend Impulse gegeben. So aber ist, im Ganzen gesehen, eine Chance vertan zu zeigen, was eigentlich das Besondere an der Mobilität von Musikern ist, wo Unterschiede oder Gemeinsamkeiten entlang des historischen Längsschnitts vom mittleren 16. bis zum späten 18. Jahrhundert liegen - zu schweigen davon, dass enttäuschend wenige Beiträge sich überhaupt für das interessieren, was dem weiterhin rätselhaften, dem muttersprachlichen Englisch wohl eher fremden Terminus "Music Migrations" des Titels innewohnt: die Musik.
Andreas Waczkat