Hans Günter Hockerts: Ein Erbe für die Wissenschaft. Die Fritz Thyssen Stiftung in der Bonner Republik (= Familie - Unternehmen - Öffentlichkeit. Thyssen im 20. Jahrhundert), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 339 S., 27 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78890-0, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Boris Gehlen: Die Thyssen-Bornemisza-Gruppe. Eine transnationale business group in Zeiten des Wirtschaftsnationalismus (1932-1955), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2021
Boris Gehlen: Paul Silverberg (1876-1959). Ein Unternehmer, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007
Dieter Stiefel: Camillo Castiglioni. oder Die Metaphysik der Haifische, Wien: Böhlau 2012
Ulrich Becker / Hans Günter Hockerts / Klaus Tenfelde (Hgg.): Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2010
Hans Günter Hockerts: Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München: Oldenbourg 2004
Hans Günter Hockerts / Günther Schulz (Hgg.): Der "Rheinische Kapitalismus" in der Ära Adenauer, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016
Wie bildet man eine Wissenschaftsstiftung ab? Mit einem Photo ihres Verwaltungsgebäudes? Durch die gedruckten Resultate der von ihr geförderten Forschung? Oder mit einem Bild ihres Führungspersonals? Hans Günter Hockerts entscheidet sich in seiner Studie zur Fritz Thyssen Stiftung für einen anderen Weg. Der Sitz ist zwar auf kleinformatigen Photographien zu besichtigen, und eine halbseitige Abbildung illustriert die in der Hausbibliothek versammelten 309 Bände des gewichtigen Förderschwerpunktes "19. Jahrhundert"; Portraits mehrerer Unternehmens- und Wissenschaftsmanager folgen. Das Cover des Bandes aber schmückt eine Photographie Amélie Thyssens und Konrad Adenauers anlässlich der 1960 erfolgten Verleihung des Großen Verdienstkreuzes des Bundesrepublik Deutschland mit Stern und Schulterband.
Hockerts' Wahl ist nur folgerichtig, denn beide Protagonisten spielen in seiner Darstellung der ersten drei Jahrzehnte der Stiftung - der Band blendet um das Jahr 1989 aus - eine herausragende Rolle. Darin drückt sich zum einen der Hintergrund des Verfassers aus, einem bestens ausgewiesenen Kenner der alten Bundesrepublik und nicht zuletzt ihrer konservativ-liberalen Netzwerke zwischen "Deutschland AG" und "Kölschem Klüngel" (150), wie die Macher der Stiftung treffend charakterisiert werden. Zum anderen spiegelt das Titelbild den Rahmen, in dem die Arbeit entstanden ist. Als achter Band des Verbundprojekts zur Geschichte von Familie und Unternehmen Thyssen im vergangenen Jahrhundert hat Hockerts' Buch weniger als andere Teilstudien mit dem Nachteil zu kämpfen, am Ende des unternehmenshistorischen Booms eher ergänzen als neues Terrain beschreiten zu können. Eine eigene Arbeit zur Geschichte der aus Unternehmensmitteln begründeten Wissenschaftsförderung, wie sie für die bundesdeutsche Forschungslandschaft so kennzeichnend ist, erweist sich als kluger Schachzug und eröffnet vergleichende Perspektiven etwa zu Rainer Nicolaysens Doppelband über die VolkswagenStiftung.
Mehr als ein Buchdrittel ist der Vorgeschichte der Stiftung gewidmet. Einem kurzen biographischen Abriss Amélie und Fritz Thyssens folgen der ausführlichere Blick auf die Nachkriegsgeschichte der (Fritz) Thyssen'schen Besitzungen, die nach Denazifizierung, Demontage und Entflechtung in den 1950er Jahren (buchstäblich) wie Phönix aus der Asche stiegen und zum größten westdeutschen Stahlkonzern avancierten. Diese "erstaunliche Erfolgsgeschichte" (295) beschreibt Hockerts als Gruppenbild mit Dame. Auf der einen Seite stellt er, im Anschluss an die Studie Johannes Bährs, das Manager- und Juristenquartett aus Kurt Birrenbach, Robert Ellscheid, Robert Pferdmenges und Hans Günther Sohl als zentrales Gremium heraus, das die Rekonzentration des Thyssen'schen Montanimperiums dirigierte - nicht immer konfliktfrei, aber langfristig höchst wirkungsvoll. Auf der anderen Seite lässt Hockerts keinen Zweifel daran, dass Amélie Thyssen - deutlicher als ihre Tochter Anita Zichy-Thyssen - mehr als nur die formale Eigentümerin war. Vielmehr interpretierte sie ihre Witwenrolle als Vermächtnisverwalterin, deren Streben ganz darauf gerichtet war, den Familiennamen industriell wie politisch zu rehabilitieren. Von der Zustimmung durch bzw. vom Zugang zu Amélie Thyssen hing - ihrer gleichermaßen realistischen wie koketten Selbstdarstellung als auf Beratung angewiesene, fachfremde Frau in einer männerdominierten Branche zum Trotz - jede grundlegende Entscheidung ab.
Die Entscheidung zur Stiftungsgründung deutet Hockerts als Motivbündel. Fasste Amélie Thyssen die Pionierleistung auf dem Gebiet der Wissenschaftsförderung als Krönung des Wiederaufstiegs und als "memorialpolitischen Akt" (124) für ihren verstorbenen Ehemann auf, sah das Managerquartett darin eine Möglichkeit, sowohl für die zur selben Zeit bei der Kartellkontrolle der Montanunion anhängige nächste Fusionsstufe zu werben als auch den philanthropischen Mehrwert des bundesdeutschen Booms nachzuweisen. Für Politiker wie Adenauer bot sich die Gelegenheit, den Verfassungsauftrag, Eigentum sozial zu verpflichten, in der Praxis nachzuweisen. Während Steuervorteile trotz anderslautender Gerüchte offenbar keine besondere Rolle spielten, war das Anliegen durchaus ernst gemeint, die westdeutsche Forschungslandschaft nicht nur im Systemwettbewerb, sondern auch im westlichen Vergleich zu stärken.
Entsprechend wichtig nahmen die Beteiligten die Grundsatzentscheidungen. Die Etablierung der Stiftung im Jahr 1959 wurde als Medienereignis inszeniert. Satzung, Komposition von Kuratorium, Vorstand und Wissenschaftlichem Beirat wurden hinter den Kulissen ausgehandelt - unter Einbeziehung Adenauers, dem die ohnehin konservative Besetzungsliste gerade des Beirats immer noch verdächtig war. Im Ergebnis setzten sich die drei Gremien für mehrere Jahrzehnte aus Vertretern der Thyssen-Unternehmen, Brancheninsidern und einer ausgewählten Phalanx ebenso namhafter wie konservativer Wissenschaftler zusammen. Dem Verdacht liberalen Zeitgeistes war die Fritz Thyssen Stiftung schwerlich ausgesetzt. Ihrem Beirat gehörten unter anderem Arnold Bergstraesser, Götz Briefs, Adolf Butenandt, Helmut Coing, Hermann Jahrreiß und Hans Rothfels an, die später durch kooptierte Kollegen wie Hermann Lübbe, Hartmut Schelsky und Theodor Schieder ergänzt bzw. ersetzt wurden. Frauen blieben im Untersuchungszeitraum vollständig außen vor. Stattdessen zeigten sich Überalterungstendenzen auf allen Ebenen; im Beirat war die Alterstoleranz so groß, dass - in der komischsten Passage des Buches - Butenandt 1981 ankündigte, sich mit 78 Jahren zurückzuziehen, um Jüngeren Platz zu machen.
Im letzten Kapitel widmet sich Hockerts der Stiftungsarbeit, angesichts der Breite des Förderprofils in notwendig ausschnittartiger Weise. Bald schon von größeren Geldgebern an Finanzkraft überholt, nutzte die Stiftung geschickt die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen von DFG bis Max-Planck-Gesellschaft, um ihre begrenzten Ressourcen mit schmalem Verwaltungsapparat einzusetzen. Die Schwerpunkte auf geisteswissenschaftlicher Forschung und, in geringerem Maße, auf medizinischem Gebiete sollten dabei helfen, ein klares Profil zu entwerfen, was sich jedoch gerade zu Beginn als schwierig erwies. Erfolgreichen Projekten standen zweifelhafte, auch intern umstrittene Entscheidungen wie die Unterstützung von Bergsträssers Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschung gegenüber; hier machten sich Netzwerknachteile bemerkbar. Auch das Prestigeprojekt zum 19. Jahrhundert schneidet bei Hockerts eher mittelmäßig ab - quantitativ beeindruckend und mit einigen wichtigen Ergebnissen, als interdisziplinäre Weichenstellung aber letztlich zu unpräzise und am Ende "sang- und klanglos" (253) abgewickelt. Höher schätzt er die Arbeit in der Nachwuchsförderung (von der auch der Rezensent profitiert hat) ein, die der Neigung, Mittel bevorzugt bereits arrivierten Antragsstellern zuzuweisen, entgegengewirkt habe. Ob allerdings der sogenannte Matthäus-Effekt damit wirklich relativiert oder nicht vielmehr in die Folgegeneration projiziert wurde, wäre zumindest zu diskutieren.
Hans Günter Hockerts hat eine aufschlussreiche und - nicht zuletzt dank seiner Vertrautheit mit dem Gegenstand - den Leser inhaltlich wie sprachlich in die erste Lebensphase der Stiftung mitnehmende Studie geschrieben. Damit liefert sie nicht nur einen originellen Beitrag zum größeren Projekt, sie legt auch den Grundstein für weitere Arbeiten, die den Faden dort aufnehmen könnten, wo ihn Hockerts mit knappen, die Beiratsära Wolf Lepenies' skizzierenden Strichen niedergelegt hat.
Kim Christian Priemel