Luise Güth: Die Blockparteien im SED-System der letzten DDR-Jahre. Wahrnehmung und Partizipation am Beispiel des Bezirks Rostock (= Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag. Reihe: Geschichtswissenschaft; Bd. 39), Marburg: Tectum 2018, 452 S., 27 Tbl., ISBN 978-3-8288-4143-7, EUR 72,00
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Luise Güth begründet die Wahl ihres Dissertationsthemas unter anderem damit, dass die bisherige DDR-Forschung weithin auf die Staatspartei SED bezogen gewesen und die Geschichte der Blockparteien zu wenig beachtet worden sei. Das gelte insbesondere für die mittlere und untere Organisationsebene. Sozialgeschichtlich interessant waren diese Verbündeten für sie, weil sie als Mitträger der diktatorischen Herrschaft mit "gewissen Machtbefugnissen gegenüber Dritten" (20) ausgestattet gewesen seien und Mitverantwortung hatten für das, was politisch im Land geschah. Aus der Herrschaftsperspektive betrachtet seien sie Erfüllungsgehilfen der Machtträger gewesen, so ihr bilanzierendes Urteil. Die politisch interessierteren Teile der dort Organisierten aber hätten die Mitgliedschaft als "größtmöglichen legalen Kontrapunkt zur SED-Herrschaft" (418) gesehen und den DDR-Sozialismus demokratischer gestalten wollen. Sie glaubt, "dass die allermeisten von ihnen die tatsächlichen Mechanismen der SED-Herrschaft nicht erkennen konnten". (418)
Die Autorin hat für ihre Untersuchung den Bezirk Rostock ausgewählt, unter anderem weil er als schmaler Küstenstreifen an zwei verschiedene Staaten grenzte: im Westen an die Bundesrepublik, im Osten an Polen. So ließen sich die Einflüsse beider Systeme auf den Bezirk studieren und im Binnenvergleich Unterschiede zu den Südbezirken festhalten. Er hatte 900.000 Einwohner, von denen 100.000 der SED angehörten und 28.000 in einer der vier Blockparteien organisiert waren. Unter ihnen war die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) mit 10.000 Mitgliedern die stärkste. Der Bezirk bestand aus 14 Stadt- und Landkreisen, die Luise Güth im Einzelnen untersucht. Wer sich informieren möchte, wie die einfachen Mitglieder und die Funktionäre einer der vier Blockparteien in einem dieser Landkreise auf den Machtverfall der SED reagierten, findet dazu aufschlussreiche Informationen in dieser Studie. Das gilt selbst für die von der Forschung bisher vernachlässigte Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD). Im Mittelpunkt stehen die beiden ursprünglich noch selbständigen Blockparteien, die Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU) und die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD). Die Autorin stützt sich vor allem auf eine imponierend breite archivalische Quellenbasis und hat 1.000 Akten in den einschlägigen Partei- und Staatsarchiven ausgewertet, auf die sie sich in 2.300 Fußnoten bezieht. Umfassend, aber nicht ganz so akribisch, hat sie die Sekundärliteratur berücksichtigt.
Den Untersuchungszeitraum begrenzt sie auf die Jahre von März 1985 bis April 1990, vom Amtsantritt Gorbatschows bis zu dem Lothar de Maizières, des ersten demokratisch gewählten DDR-Regierungschefs. Diese Zäsuren markieren für sie den Beginn und das Ende des "Bemühens um einen demokratischen Sozialismus in der späten DDR" (10). Sie will herausarbeiten, "welche Faktoren die Akzeptanz des SED-Herrschaftsanspruches in diesem Blocksystem ins Wanken brachten und schließlich den Zusammenbruch des SED-Staates begünstigten"(10). Was sie in den Archiven fand, ist inhaltlich heterogen. Der Leser hat zu beachten, welche Aussage sich auf Funktionäre und/oder Mitglieder, womöglich auf beide, bezieht und welche Organisationsebene angesprochen wird, der Bezirk, ein Stadt- oder Landkreis oder gar die zentrale Parteileitung in Berlin.
Die Verfasserin gliedert ihre Untersuchung in vier Abschnitte und geht chronologisch vor. Sie beginnt mit einer historischen Einordnung der Blockpolitik und der Blockparteien und skizziert speziell deren Gründungsgeschichte nach dem Kriege. Danach behandelt sie in 22 Einzelkapiteln die "Einflüsse auf die Akzeptanz des SED-Regimes." (61) Thematisiert werden die Einflüsse der sowjetischen Reformpolitik und die der angrenzenden Bundesrepublik, systemimmanente Probleme in den Bereichen Wirtschaft, Versorgung, Umwelt- und Informationspolitik sowie die Reisegesetzgebung. Auch das Einwirken des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und der von den Kirchen inspirierten Bürgerbewegung behandelt sie knapp.
Den Hauptabschnitt ihrer Arbeit stellt sie unter die Überschrift: "Aufbruch zur Emanzipation von der SED." (194) Sie zeigt, wie Funktionäre und Parteimitglieder damit umgingen, dass die Staatspartei in dieser existentiellen Krise schrittweise ihre Führung aufgab und die Bündnisorganisationen sich selbst überließ. Für die weitere Geschichtsschreibung besonders nützlich sind die Befunde, die sie im letzten Abschnitt "Vorbereitungen auf die deutsche Vereinigung" (396) aus den Akten destilliert hat. Belegt wird, wie schwer sich die Mitglieder und Führungen vielerorts mit dem Angebot taten, die Integration in eine der Bonner Regierungsparteien mit zu vollziehen und sich deren Leitung anzuvertrauen. Die Öffnung der Mauer, so zeigt die Autorin, löste bei den Mitgliedern keine ungeteilte Freude aus. Viele in den Grenzkreisen befürchteten, der West-Ost-Besucherverkehr könnte zu Aufkäufen in großem Stil und zur weiteren Verschlechterung der Versorgungslage führen. Andere glaubten noch lange an die Reformierbarkeit des Sozialismus und gaben ihm den Vorzug.
In den Text und als Anhang hat sie 27 Tabellen und Graphiken eingefügt, die, aufgeschlüsselt nach Landkreisen, unter anderem über die Entwicklung der Mitgliederzahlen und die Ergebnisse der Wahlen 1990 informieren. Besondere Beachtung werden ihre Rechercheergebnisse zur Zahl der Inoffiziellen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes (IM) und deren Verteilung auf die einzelnen Parteien finden. Weit verbreitet ist die Vermutung, die Politik der Blockparteien in den letzten Monaten der DDR sei von ihnen wesentlich beeinflusst worden - eine Annahme, die man bei Luise Güth nicht bestätigt findet. Die Hälfte der IM sei inaktiv gewesen. Selbst aus Bereichen, in denen die IM-Dichte groß war, habe der Sicherheitsdienst manchmal keine Informationen erhalten. Das relativiere die "Einschätzung des MfS als allwissendes Organ" (151).
Gewünscht hätte man sich noch ein Kapitel, in dem sie analysiert hätte, wie die SED auf die unfreiwillige Emanzipation ihrer bis dahin angepassten Verbündeten reagierte. Auch ein längerer Seitenblick darauf, wie die Bürgerbewegung parallel agierte und sich die Stimmung der Gesamtbevölkerung wandelte, wäre nützlich gewesen, um besser einschätzen zu können, was in den Blockparteien geschah.
Besondere Beachtung dürften terminologische Besonderheiten ihrer Darstellung finden. Sie kürzt die Parteibezeichnung für die Union durchgehend mit CDU(D) ab, obwohl diese Form nur in den ersten Nachkriegsmonaten verwendet wurde, um den auf Gesamtdeutschland zielenden Organisationsanspruch zu unterstreichen. So wird die Vereinigung beider Unionsverbände 1990 begrifflich zur Fusion von CDU(D) und CDU. Tatsächlich aber war die identische Parteibezeichnung und Abkürzung ein unübersehbarer Hinweis darauf, dass es sich um Schwesterparteien handelte. Als "Blockparteien" bezeichnet sie alle, die Mitglied des "Demokratischen Blocks" der DDR waren, also auch die SED. Sie räumt ein, dass diese aufgrund ihrer "exponierten Stellung" zumeist nicht als Blockpartei bezeichnet werde (9). Die Autorin bezieht sie aber zuweilen ein und spricht von den "fünf Blockparteien". (226, 280)
Güths Arbeit könnte der Beginn einer stärker auf die Regionalebene fokussierten Blockpartei-Forschung sein. Da bisher vor allem untersucht wurde, was an zentraler Stelle entschieden wurde, wäre diese Horizonterweiterung sehr zu begrüßen.
Siegfried Suckut