Robert Hutchings / Gregory F. Treverton (eds.): Truth to Power. A History of the U.S. National Intelligence Council, Oxford: Oxford University Press 2019, XIV + 242 S., ISBN 978-0-19-094000-3, GBP 64,00
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Trotz intensiver Spezialforschung wird man weiten Teilen der Forschung zur internationalen Geschichte ein Aufmerksamkeitsdefizit in Bezug auf die Rolle geheimer Nachrichtendienste in außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozessen attestieren müssen [1]. Dies resultierte auch daraus, dass sich die Dienste nach außen abschotteten und viele ihrer Aktivitäten unbekannt waren. Aktenoffenlegung, Publikationen ehemaliger Akteure und auch mehr Transparenz in manchen liberal-demokratischen Staaten haben der Forschung indes viele Anknüpfungspunkte geliefert.
Für den US-amerikanischen Kontext liegt mit dem von Robert Hutchings und Gregory F. Treverton herausgegebenen Band eine dichte und thesenstarke Darstellung vor, die in einer Mischung aus problemorientierter Historisierung und Erinnerungsliteratur die Geschichte der höchstrangingen nachrichtendienstlichen Behörde der USA, des National Intelligence Council (NIC), nach dem Ost-West-Konflikt vermisst.
Der Band enthält eine konzise Einleitung aus Hutchings' Feder, einen pointierten Schluss von Treverton sowie Beiträge, in denen acht Vorsitzende des NIC seit dem Ende des Ost-West-Konflikts - darunter die beiden Herausgeber - Bilanz über ihre jeweiligen Amtsperioden ziehen.
Die Klarheit, Argumentationsstärke, Abgewogenheit und Strukturiertheit der Beiträge, vor allem der Herausgeber sowie von Joseph S. Nye Jr. und Thomas Fingar, lassen erkennen, welch kluge Köpfe dahinterstehen und wie sehr man in die Irre geht, wenn man die Bedeutung nachrichtendienstlicher Analyse für politische Entscheidungsbildung zu gering veranschlagt oder nicht beachtet.
Der NIC wurde 1979 gegründet, nachdem die Vorgängerorganisation, das nach dem Korea-Schock 1950 etablierte Office of National Estimates (O/NE), abgeschafft worden war. Die Hauptfunktion des NIC und auch des O/NE bestand darin, die US-Weltpolitik mit strategischen Analysen zu unterstützen. Koordination bedeutete vor allem: Für NIC-Analysen wird systematisch Intelligence aus der gesamten US-amerikanischen Intelligence Community (IC) herangezogen, Entwürfe werden durch NIC-Personal erstellt, auf der Arbeitsebene mit anderen US-Diensten abgestimmt und zuletzt von den Chefs dieser Dienste unter Vorsitz des Director of National Intelligence angenommen, bevor sie einem begrenzten Personenkreis der höchsten politischen und administrativen Ebenen zugänglich gemacht werden. Premiumprodukte seit 1950 sind die National Intelligence Estimates (NIEs) und die President's Daily Briefs, von denen mittlerweile viele (häufig bereinigt) offengelegt wurden.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 brach eine neue Ära größerer Komplexität, Ungewissheit und mit größerem Potential zu radikalem Wandel an. Die ursprüngliche Arbeit war stark auf die sowjetisch-kommunistische Bedrohung ausgerichtet gewesen. Alleine zum materiellen Kern dieser Bedrohung, der Entwicklung strategisch-nuklearer Waffensysteme der Sowjetunion, waren 41 NIEs erstellt worden. Seit den frühen 1990er Jahren wurde die Themenpalette größer. Es war wichtiger, auf öffentlich verfügbare Expertise aus Wissenschaft und Wirtschaft zurückzugreifen bzw. den Austausch zu suchen, der wegen Geheimhaltung immer an Grenzen stieß. Das - hier nur umrissene - Panorama reichte von zwischen- und innerstaatlichen Konfliktpotentialen über Terrorismus, Migration, Seuchen und Cyberthemen bis zu sicherheitspolitischen Implikationen des Klimawandels.
Die Aspiration der Analysearbeit des NIC war und ist, "die Wahrheit" herauszufinden und US-Machthaber einer ungeschönten, streng auf Objektivität verpflichteten Realitätssicht auszusetzen. Im Unterschied zu göttlicher Wahrheit, die befreit, so etwa Treverton, führt die Wahrheit der Nachrichtendienste dazu, Politik zu beschränken und Spielräume aufzuzeigen. Ist die Analyse im Lichte politischer Präferenzen der Entscheider ungünstig, ist eine kühle Rezeption wahrscheinlich. Ist die Analyse luzide, ist noch kein Einfluss auf politische Entscheidungen gegeben. Politische Beratung ist mit professionellen Standards des Analysten unvereinbar, auch wenn längst gilt, dass Analysten die Bedürfnisse der Abnehmer so gut wie möglich kennen und beide konstant interagieren sollten.
In Analysen ging und geht es nicht um Vorhersagen oder Prophetie, sondern um bestmögliche Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen. Im Unterschied zu Historikern sind nachrichtendienstliche Analysten eher vorwärts- als rückwärtsgewandt. Beide versuchen, die Ungewissheit, die vergangene, aktuelle und zukünftige Phänomene umgibt, zu reduzieren. Sicherheit ist regelmäßig nicht möglich, vor allem weil die Datengrundlage lückenhaft ist.
Zukunftsorientierte Einschätzungen können sich als falsch herausstellen. Häufig lag der NIC jedoch beeindruckend richtig. NIC-Analysen hatten schon 1994 infrage gestellt, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre die Grenzen der Ukraine gleichbleiben würden, und später, in den frühen 2000ern, dass die aktuell gegebene Harmonie zwischen Russland und den USA anhalten werde. Nach der Doppelkrise um 9/11 bzw. um die Rolle von Intelligence vor dem Dritten Golfkrieg 2003 war im Jahr 2007 der NIE über Irans Kernwaffenprogramm ein offenbar meisterlich bestandener Lackmustest für die Güte und Verlässlichkeit der strategischen Analyse des NIC - eine nicht hinreichend bekannte Episode.
Immer fiel es außerordentlich schwer, im Voraus die Kristallisation - und erst recht den Zeitpunkt - eines Bruchs, einer Disruption oder Nichtlinearität abzuschätzen, auch wenn strukturelle Transformationsprozesse regelmäßig gut verstanden wurden. Wichtige Beispiele sind der Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, der Arabische Frühling, die Ukraine-Krise 2013/14, der Kollaps der irakischen Regierungsgewalt unter dem Druck des sogenannten Islamischen Staates und die russische Intervention in den syrischen Bürgerkrieg. Mancher Einschnitt überraschte fast vollkommen, etwa die Kernwaffentests Indiens und dann Pakistans 1998.
Zu der häufig aus Unkenntnis vielgescholtenen Rolle der US-IC und des NIC in der Einschätzung der Bedrohung durch den Irak bis 2002/03 legt der Sammelband differenzierende und korrigierende Einsichten nahe: Zur Kriegsauslösung hat es des Intelligence-Inputs nicht bedurft. Die Ungewissheiten, die die US-IC kommunizierte, prallten auf Gewissheiten der politischen Entscheider. Sichtweisen vor der Irak-Invasion, die die ABC-Waffenfähigkeiten des Irak überschätzten, sind genauso falsch wie Sichtweisen nach der Invasion, wonach solche Fähigkeiten nicht existiert hätten (bezogen auf B- und C-Waffen) oder nicht hätten aufwachsen können (A-Waffen). Hutchings bilanziert: "We may never know definitely what Iraq had at the time the war began" (116).
Hutchings und Trevertons Band bietet wertvolle Perspektiven auf die analytische Arbeit des NIC in drei Jahrzehnten globaler Transition, die die bleibende Bedeutung zukunftsorientierter strategischer Analyse offenkundig werden lässt. Ist Deutschland auch im 21. Jahrhundert gut beraten, auf eine Art NIC zu verzichten?
Anmerkung:
[1] Calder Walton: Historical Amnesia: British and U.S. Intelligence, Past and Present, in: Secrecy and Society 2 (2018), Issue 1, https://scholarworks.sjsu.edu/secrecyandsociety/vol2/iss1/8 (letzter Aufruf 26.03.2020).
Andreas Lutsch