Rezension über:

Ariane Leendertz: Der erschöpfte Staat. Eine andere Geschichte des Neoliberalismus, Hamburg: Hamburger Edition 2022, 480 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-86854-365-0, EUR 40,00
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Rezension von:
Arndt Neumann
Historisches Institut, FernUniversität Hagen
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Arndt Neumann: Rezension von: Ariane Leendertz: Der erschöpfte Staat. Eine andere Geschichte des Neoliberalismus, Hamburg: Hamburger Edition 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/37844.html


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Ariane Leendertz: Der erschöpfte Staat

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Von den drastischen Haushaltskürzungen, die US-Präsident Ronald Reagan während seiner beiden Amtszeiten durchsetzte, war das Department of Housing and Urban Development in besonderer Weise betroffen. Zwischen 1981 und 1989 strich er die Bundesausgaben für Wohnungsbau und Stadtentwicklung von 34,2 auf 14,4 Milliarden Dollar zusammen. Wie sich dieses Politikfeld im historischen Längsschnitt von den späten 1970ern bis in die späten 1990er Jahre wandelte und welche Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Markt darin zum Ausdruck kam, steht im Mittelpunkt von Ariane Leendertz' Habilitationsschrift.

Ausdrücklich fasst sie den von ihr untersuchten "Wandel von Staatlichkeit" (27) dabei mit dem Begriff Neoliberalismus. Dessen analytische Tragfähigkeit gelte es durch empirische Fallstudien zu überprüfen. Zudem seien für ein umfassenderes Verständnis neue konzeptionelle Zugänge erforderlich. Gegenüber einem allzu monolithischen Bild neoliberaler Verhältnisse sei es wichtig, das Fortbestehen parteipolitischer Unterschiede herauszuarbeiten. Darüber hinaus könne durch die "Verknüpfung von Wissenschafts-, Ideen- und Politikgeschichte" (429) der Einfluss wissenschaftlicher Zeitdiagnosen auf die Vorstellungswelten der Entscheidungsträger offengelegt werden. Besonders bedeutsam sei hier die "Krisenwahrnehmungen" (33) der 1970er Jahre bündelnde Kategorie der "Komplexität" (17).

Für das Department of Housing and Urban Development zählte spätestens seit den innerstädtischen Unruhen der 1960er Jahre die "Urban Crisis" (39), das heißt die räumliche Konzentration von sozialen Problemen in den Großstadtzentren, zu den wichtigsten Herausforderungen. Vor allem die afroamerikanische Bevölkerung war von der dort vorherrschenden Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Kriminalität betroffen. Immer wieder rückten diese Missstände in den folgenden Jahrzehnten in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung, so auch in der Amtszeit des demokratischen US-Präsidenten Jimmy Carter. Unterstützt durch die zuständige Ministerin Patricia Roberts Harris - einer der Bürgerrechtsbewegung verbundenen afroamerikanischen Juristin - verfolgte er weiterhin das progressive Ziel, die sozialen Probleme ethnischer Minderheiten in den Innenstädten zu überwinden. Doch die bis in die 1960er Jahre vorherrschende Überzeugung des "Solutionism" (13), dass jedes gesellschaftliche Problem durch wissenschaftlich angeleitetes staatliches Handeln lösbar sei, teilten beide nicht länger. Maßgeblich beigetragen zu diesem schleichenden Vertrauensverlust habe der neue Leitbegriff der Komplexität. Da die ohnehin kaum überschaubare Vielschichtigkeit sozialer Probleme durch staatliche Eingriffe weiter erhöht werde, so die Annahme der Policy-Forschung, müsse die Wirksamkeit politischer Maßnahmen grundsätzlich hinterfragt werden. Angesichts dieser Zweifel an der "Regierbarkeit" (111) vermochte es Harris nicht, weitreichende politische Maßnahmen durchzusetzen, mit der bezeichnenden Ausnahme von zentralstaatlichen Zuschüssen für privatwirtschaftliche Entwicklungsprojekte.

Aber erst nach dem Amtsantritt des von Staatsfeindlichkeit und Marktgläubigkeit erfüllten republikanischen US-Präsidenten Reagan vollzog sich die eigentliche Zäsur. Das von ihm verfolgte Ziel eines vollständigen Rückzuges der Bundesregierung aus Wohnungsbau und Stadtentwicklung stand unter dem deutlichen Einfluss der von dem Ökonomen James Buchanan entwickelten "Public-Choice-Theorie" (311). Da staatliche Leistungen nichts anderes als dysfunktionale Monopole seien, gelte es durch umfassende Privatisierungen die Effizienz der Märkte wiederherzustellen. Ihren programmatischen Ausdruck fanden diese theoretischen Annahmen in der letztlich nicht verwirklichten Forderung, die innerstädtischen Problemgebiete in vollständige deregulierte "Enterprise Zones" (292) umzuwandeln. Weitaus wichtiger war jedoch die bewusste Aushöhlung des Department of Housing and Urban Development durch Ausgabenkürzungen und Stellenstreichungen.

Gegenüber dieser weitgehend destruktiven republikanischen Vorgehensweise kam es mit dem Amtsantritt des demokratischen US-Präsidenten Bill Clinton zu einem teilweisen Neuanfang. Prägend für das Selbstverständnis der New Democrats war die begrenzte Wiederaufnahme progressiver Ziele im Zeichen von "Empowerment" (394) sowie das grundsätzliche Festhalten an der Bedeutung politischer Eingriffe. Doch zugleich vertraten sie die Überzeugung, dass eine aktivere Rolle der Bundesregierung deren konsequent unternehmerische Ausrichtung voraussetze. Dementsprechend gehörte das in der Tradition der Public-Choice-Theorie stehende "New Public Management" (405) zu den intellektuellen Stichwortgebern der demokratischen Urban Policy und die Schaffung von "Enterprise Communities" (394) zu den wichtigsten staatlichen Maßnahmen.

Mit ihrer quellengesättigten Untersuchung des Department of Housing and Urban Development weist Leendertz nach, dass sich in diesem Politikfeld seit den 1970er Jahren ein grundlegender Wandel von Staatlichkeit vollzogen hat. In schlüssiger Weise charakterisiert sie diese Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Markt als neoliberal, ohne die fortbestehenden Unterschiede zwischen republikanischen und demokratischen Politikansätzen zu vernachlässigen. Weniger überzeugend ist demgegenüber der Anspruch, mit der Verknüpfung von Wissenschafts-, Ideen- und Politikgeschichte zu einem erweiterten Verständnis des Neoliberalismus beizutragen. In besonderem Maße gilt dies für die thesenhafte Zuspitzung des Zusammenhangs zwischen der Entdeckung der Komplexität, der Erschöpfung staatlicher Handlungsfähigkeit und dem Durchbruch des Neoliberalismus. Vor dem Hintergrund des in der empirischen Darstellung aufscheinenden vielschichtigen Bedingungsgeflechts ist hier eine deutliche Relativierung erforderlich.

Ein erster Einwand betrifft die gesamtgesellschaftliche Reichweite komplexitätstheoretischer Überlegungen. Vieles deutet darauf hin, dass die Ergebnisse der Policy-Forschung vorrangig das demokratische Lager verunsicherten. Für Reagan, dies hebt Leendertz selbst hervor, spielten sie keine Rolle. Stattdessen stand der republikanische Präsident unter dem Einfluss der reduktionistischen Modelle marktradikaler Ökonomen. Maßgeblich für Reagans politische Durchschlagskraft, so ließe sich schlussfolgern, war nicht die Ratlosigkeit angesichts einer neuen Unübersichtlichkeit, sondern der feste Glaube an seit jeher bestehende Gesetze. Der Staat sei das Problem, der Markt die Lösung.

Ein zweiter Einwand betrifft den theoretisch nicht näher reflektierten Stellenwert des Rassismus. Auch hier weist die empirische Darstellung über die konzeptionelle Rahmung hinaus. Dass die Spannungen zwischen der weißen Mittelschicht der Vororte und der schwarzen Unterschicht der Innenstädte das Feld der Urban Policy in maßgeblicher Weise bestimmten, legen die einzelnen Kapitel immer wieder nahe. Doch welchen Anteil rassistische Vorstellungen weißer Vorortbewohner an Reagans Wahlsieg 1980 und an den darauffolgenden drastischen Kürzungen im Bereich der Urban Policy hatten, wird weder in der Einleitung noch im Fazit näher thematisiert.

Insgesamt ergibt sich damit ein zwiespältiger Eindruck: auf der einen Seite die empirisch überzeugende Beschreibung eines radikalen Politikwechsels, auf der anderen Seite die konzeptionell einseitige Überbetonung eines einzelnen Bedingungsfaktors. Fast möchte man demgegenüber einwenden: "It's more complex than that".

Arndt Neumann