Rezension über:

Erica Angliker / Ilaria Bultrighini (eds.): New Approaches to the Materiality of Text in the Ancient Mediterranean. From Monuments and Buildings to Small Portable Objects (= Archaeology of the Mediterranean World; Vol. 4), Turnhout: Brepols 2023, 260 S., 18 Farb-, 120 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-60156-4, EUR 115,00
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Rezension von:
Sara Chiarini
Centre for the Study of Manuscript Cultures, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Sara Chiarini: Rezension von: Erica Angliker / Ilaria Bultrighini (eds.): New Approaches to the Materiality of Text in the Ancient Mediterranean. From Monuments and Buildings to Small Portable Objects, Turnhout: Brepols 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/38626.html


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Erica Angliker / Ilaria Bultrighini (eds.): New Approaches to the Materiality of Text in the Ancient Mediterranean

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Diese Miszellen haben ihren Ursprung in einem von den Herausgeberinnen organisierten Panel im Rahmen des 119. Meetings des Archaeological Institute of America und der Society of Classical Studies 2018 in Boston. Das damalige Kolloquium mit dem Titel Current Approaches to the Materiality of Texts in Graeco-Roman Antiquity bestand aus drei der insgesamt dreizehn Beiträge, die den veröffentlichten Sammelband bilden.

Gegenüber dem ursprünglichen Kern wurde der Umfang der untersuchten Gegenstände und angewendeten Ansätze erheblich erweitert. Wie Michael Squire in seinem Nachwort, das neben der Einleitung der Herausgeberinnen das Buch ergänzt, schreibt, zeichnet diesen Band die deutliche Vielfalt ("ramifications", 248) an behandelten Schreibphänomenen und -praktiken aus unterschiedlichen chronologischen und kulturellen Kontexten der Antike aus. In diesem Sinne ist der Plural im Titel New Approaches to the Materiality of Text in the Ancient Mediterranean sehr treffend.

In der Tat weist das Buch die typischen Stärken und Schwächen von interdisziplinär ausgerichteten und ein sehr breites Themengebiet umfassenden Sammelbänden auf. Die Anzahl der Leser, die sich vollumfänglich mit allen Beiträgen auseinandersetzen wird, wird überschaubar sein, nicht zuletzt, weil die einzelnen Kapitel zwischen spezifischen Fallstudien (vor allem Steele und Boyes, Da Silva Francisco, Lougovaya, Leatherbury und Lee) und allgemeineren Reflexionen über bestimmte Schreibpraktiken (vor allem Reggiani, Salvo, Lamont und Day) schwanken. Die Stärke des Buches, eine Vielfalt an Epochen, Materialien und Kontexten zusammenzubringen, wird dadurch geschwächt, dass die Beiträge unter keinem geteilten theoretischen Rahmen verfasst wurden, der wiederum einen fruchtbaren kritischen Vergleich ermöglicht hätte.

Selbst die Herausgeberinnen gehen in der Einleitung nicht über die allgemeine Betonung der Wichtigkeit hinaus, einen holistischen Ansatz bei der Analyse antiker Schriftartefakte anzuwenden, der sich nicht auf die sprachliche beziehungsweise inhaltliche Ebene des Textes beschränkt, sondern auch dessen konkrete (aber auch evozierte) graphische, materielle, performative, räumliche, kognitive, soziale usw. Aspekte mitberücksichtigt. Das ist zweifelsohne eine fundamentale Erkenntnis, die aber spätestens seit dem sogenannten material turn in den Altertumswissenschaften ab den 1990er Jahren des vergangenen Jahrhunderts keine Neuigkeit mehr darstellt.

Trotz des spürbaren Bemühens der einzelnen Autoren, punktuell aufeinander Bezug zu nehmen, handelt es sich hier also um eine Sammlung eigenständiger Aufsätze, von denen manche von hoher wissenschaftlicher Qualität und hohem Erkenntniswert sind. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt die letzte Sektion des Bandes (V. Texts that Move through Media - Greek Literary and Inscriptional Epigram) dar, die im Gegensatz zu den vier vorherigen, eine thematische Einheit bildet. Alle drei dort enthaltenen Beiträge von Joseph Day, Sherry Lee und Federica Scicolone beschäftigen sich nämlich mit dem altgriechischen literarischen Epigramm in seiner Wechselbeziehung zu konkreten epigraphischen Formen und deren Wahrnehmung beziehungsweise Rezeption. Die ganzheitliche Lektüre dieses Abschnittes ist lohnenswert.

Umso mehr fällt die Diversität der ersten vier Abschnitte auf, insbesondere des Ersten, der zweifelsohne am wenigsten systematisch ist. Er beginnt mit dem sehr fundierten und lehrreichen Beitrag von Steele und Boyes über die zyprische "Reaktion" auf den Einfluss der Keilschrift auf die lokale Schreibpraktik, bei dem ich als nicht Fachkundige lediglich bedauere, dass keine Angaben zu den Inhalten der besprochenen Tafeln dargelegt werden. Es folgt ein Kapitel von Gilberto Da Silva Francisco über die Künstlerunterschrift des rotfigurigen Malers der attischen Werkstatt des Brygos. Zunächst tue ich mich mit der Emphase über die "ästhetische" Funktion beziehungsweise über den "ästhetischen" Wert von Schrift in der attischen Vasenmalerei schwer, vor allem wenn man die konkreten Merkmale und die Wirkung dieser Ästhetik von dipinti nicht darlegt. Viel problematischer finde ich hier allerdings den Widerspruch, wenn der Autor das dipinto des Brygos Malers einerseits als sekundär, ungeplant, "nor inserted with a clear aesthetic purpose [...] but simply placed where it would fit" (57), andererseits als besonders sorgfältig und nach einem klaren ikonographischen Programm konzipiert ("created with a particular programme in mind [...] special attention paid to the signature [...] positioned uniquely", 61) bezeichnet. Außerdem führt der Autor die orthographische Korrektur des Π in ἐποίησεν auf die "aesthetic role that writing played under certain conditions" (61) zurück und lässt dabei den Leser (oder zumindest mich) im Unklaren, wo genau der Zusammenhang zwischen Orthographie und Ästhetik liegt.

Die vier Kapitel, die die zweite und die dritte Sektion bilden, sind nach dem Kriterium unterteilt worden, ob die Schrift sich auf tragbaren Gegenständen beziehungsweise auf unbeweglichen Monumenten befindet. Ein origineller und möglicherweise gewinnbringender Ansatz wäre gewesen, jene Beiträge nach der Typologie von untersuchtem Schriftphänomen zu gruppieren. Dann hätten die Aufsätze von Dario Calomino und Naomi Carless Unwin ein treffliches Paar gebildet, da sie sich beide mit Praktiken von Wiederverwendung und Veränderung von Schriftartefakten beschäftigen.

Reggianis Beitrag ist wahrscheinlich derjenige, der die breiteste Leserschaft anspricht, da dort auf nachvollziehbare und anschauliche Art versucht wird, die Entwicklung von der Papyrusrolle hin zum Pergamentkodex als typische Träger autoritativer Texte nachzuzeichnen und zu erläutern. Nur Reggianis wiederholte Verwendung des Adjektivs "theoretical" in verschiedenen Zusammenhängen ("theoretical value of setting down written signs according to different formats and materials", 95; "the general difference in format and material reflected theoretical discrepancies in intended use", 96; "a world in which the theoretical pillars were the Christian and the imperial laws", 103) sorgt für einige Verwirrung.

Auch wenn Irene Salvos und Jessica Lamonts Beiträge keine besonders neuen Erkenntnisse präsentieren, hätten auch sie sich als Kapitelpaar angeboten, da beide die Rolle des Schriftartefaktes innerhalb eines bestimmten Rituals behandeln (Beichtinschriften bei Salvo, Fluchtafel bei Lamont), wobei Materialität in Salvos Diskussion kaum eine Rolle spielt, da ihr Ansatz textbasiert ist. Bezüglich Lamonts Ausführungen zum Einfluss von Bleilamellen auf die Entwicklung von antiken Fluchritualen, die sie als ziemlich einseitig gerichtet darstellt, ist zu fragen, ob wir hier nicht eher vor einem typischen Fall von Henne-Ei-Problem stehen und die Frage kaum lösen werden, ob zuerst die Gegenstände das Ritual beeinflusst haben, oder eher die Entwicklungen innerhalb des Rituals zur Etablierung bestimmter ritueller Gegenstände geführt haben.

Die übrigen Kapitel der vierten Sektion stellen einen interessanten Kontrapunkt zur fünften und letzten Sektion dar. Sean Leatherbury und Paweł Nowakowski besprechen dort Fälle, bei denen Schrift ihre Aufgabe allein durch ihre physische Präsenz erfüllt. Diese lassen sich daher in Kontrast zu den bereits oben erwähnten Aufsätzen von Sektion V zum literarischen Epigramm betrachten, in denen hingegen deutlich gemacht wird, dass der geschriebene Text allein keineswegs ausreicht, um seine Kraft vollständig zu entfalten, sondern benötigt dessen performative Aufführung.

Insgesamt bietet diese breit gefächerte Sammlung genug Stoff, um über Themen nachzudenken, die in der Epigraphik und allgemeiner in den Altertumswissenschaften gegenwärtig intensiv debattiert werden, wie unter anderem Schrift als Ersatz für physische Präsenz; die Relevanz der Lage einer Inschrift, vor allem in Bezug auf ihre Lesbarkeit; oder den nicht immer direkten Zusammenhang zwischen Kategorie von Schriftträger und Funktion einer Inschrift. [1]


Anmerkung:

[1] Auf typographischer Ebene ist das Buch gut kuratiert worden. Mir sind sehr wenige Tippfehler aufgefallen ("Contrary to Palaima's assertion than...", 50; "The ARV, for instance, the Brygos Painter is...", 56).

Sara Chiarini