Rezension über:

Peter Ullrich / Sina Arnold / Anna Danilina u.a. (Hgg.): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft (= Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart; Bd. 8), Göttingen: Wallstein 2024, 315 S., ISBN 978-3-8353-5070-0, EUR 24,00
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Rezension von:
Luis Gruhler
München
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Luis Gruhler : Rezension von: Peter Ullrich / Sina Arnold / Anna Danilina u.a. (Hgg.): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft, Göttingen: Wallstein 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/39089.html


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Peter Ullrich / Sina Arnold / Anna Danilina u.a. (Hgg.): Was ist Antisemitismus?

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Der hier besprochene Sammelband verfolgt das Ziel, die "Vielfältigkeit von Antisemitismusverständnissen [...] und die Schwierigkeit, Antisemitismus zu definieren" (10) aufzuarbeiten. Dies geschieht in drei handbuchartigen Kapiteln: Grundbegriffe, Problemfelder, Positionen. Daran angefügt ist ein eigenständiges Kapitel zur Reflexion über "Probleme der Begriffsbildung von Antisemitismus." Das Kapitel "Problemfelder" bietet eine Auswahl von relevanten Erklärungskontexten, in die der Begriff Antisemitismus eingebettet ist. Dazu gehören neben der Psychoanalyse auch das Verhältnis zu Rassismus und Vorurteil und insbesondere die politische und bildungspolitische Rolle von Antisemitismusdefinitionen.

Trotz der Heterogenität der Beiträge und des Aufbaus des Bandes liegt diesem eine einheitliche Konzeption zugrunde. Entgegen den Erwartungen, die der Titel schürt, bildet nämlich nicht der Antisemitismus das Objekt oder den Gegenstand der Untersuchung, sondern vielmehr vorherrschende Verständnisse von Antisemitismus. Der somit gewählte Ansatz versteht sich als "Beobachtung[] zweiter Ordnung". (198) Dieses theoretische Vorgehen sei notwendig, nicht nur weil Antisemitismus primär als ein Begriff aufgefasst wird - anstatt als eine Wirklichkeit und Gewaltgeschichte, sondern vor allem weil Begriffsbildung grundlegend als "Kämpfe [...] um Macht" (199) verstanden wird. Dass es sich bei "Macht" selbst um einen traditionellen antisemitischen Topos handelt, bleibt dabei unreflektiert. In der spezifischen Denktradition Foucaults wird das Definieren selbst als eine "Schaffung unserer Wirklichkeiten" (202) verstanden, und die Beobachtung zweiter Ordnung des Definierens entsprechend als eine Diskursanalyse, also eine "Aufdeckung von auch subtil, insbesondere sprachlich zementierten Machtstrukturen" (203) aufgefasst. Was das bedeuten soll, wird mehrfach deutlich gemacht. Israel halte "über mehrere Jahrzehnte ein Besatzungsregime mit einer rechtlich untergeordneten Bevölkerung aufrecht". (234) Deshalb sei das Land "mit einem realen Gegenwartskonflikt verknüpft" und bilde eine solche Machtstruktur, die den Begriff Antisemitismus in einer spezifischen Form in einem Diskurs erschaffe. Er werde "als Vorwurf auch in unklaren oder nicht zutreffenden Fällen strategisch" eingesetzt. Solche Thesen rücken gefährlich nahe an die von David Hirsh so bezeichnete Livingstone Formulation, die durch zwei Elemente gekennzeichnet ist: "Firstly the conflation of legitimate criticism of Israel with what are alleged to be [...] antisemitic discourses or actions; secondly, the presence of the counteraccusation that the raisers of the issue of antisemitism do so with dishonest intent, in order to de-legitimize criticism of Israel". [1] Das erste Element der confilation zeigt sich in dem Band darin, dass das allgemein angestrebte Ziel einer Definition des Antisemitismus beständig vor dem Problem von "Arbitrarität und Vagheit" (216) stehe. Keine Definition könne "die Vielschichtigkeit des (israelbezogenen) Antisemitismus kurz und bündig abbilden" (49), zumal hier die "Übergänge und Grauzonen" (92) von eigentlicher Relevanz seien. Entsprechend bleibt der Antizionismus als Erscheinungsform des Antisemitismus im Band nahezu unberücksichtigt, trotz des angekündigten Versuchs den "blinden Fleck" (198) freizulegen, der sich im Beobachten sozialer Phänomene einstellt. Aus diesen theoretischen Grundlagen heraus wird auch leicht verständlich, warum im Abschnitt "Positionen" der "Kritik instrumenteller Antisemitismusvorwürfe" durch Judith Butler der meiste Raum geboten wird. Die Behauptungen, dass in Israel ein "antisemitische[r] Zionismus" (184) regiere und der Antisemitismusvorwurf zur einer "repressiven Verwendung" (185) tendiere, werden unkritisch übernommen. Sie entsprechen ganz der theoretischen Prämisse, dass es sich bei der Kritik von Antisemitismus um "sprachlich zementierte Machtstrukturen" handele. Als ein weiteres Beispiel dafür werden die "starke erinnerungspolitische Formung der Nahostdebatten in Deutschland und die daraus resultierende Prominenz antisemitismuskritischer Deutung des Nahostkonflikts" (91 f.) angeführt. Diese Formung fördere "einen erkenntnistheoretischen Idealismus, der die Dynamik des Konflikts, aber auch materielle Aspekte und manifeste Interessen der Analyse unterbewertet". (92) Der Begriff des Idealismus bleibt hier allerdings philosophisch äußerst unpräzise, zumal in Verbindung zu der hier kritisierten "antisemitismuskritischen Deutung".

Allgemein finden sich stets wieder theoretische Ungenauigkeiten. So widerspricht die angekündigte klassisch rationalistische Unterscheidung von "historisch-genetisch[r] Sicht auf das Wort" und "systematisch-orientierte[m] Zugang zum Begriff" (18) als methodologische Prämisse deutlich der sonst vertretenen Methode der Genealogie. Diese Ungenauigkeiten erstrecken sich bis in die dargestellten "Positionen". So handelt es sich etwa bei der Darstellung von Horkheimer und Adornos "Elemente des Antisemitismus" um eine starke Reduktion, die nicht nur das Kapitel vom Denkzusammenhang der "Dialektik der Aufklärung", sondern auch von dem historischen des Instituts für Sozialforschung isoliert. Auf ähnliche Weise bleibt die Darstellung von Sartres "Réflexions sur la question juive" bruchstückhaft. Entscheidende Formulierungen, dass "l'antisémitisme se présente comme un passion" [2], also als eine Leidenschaft erscheint, und wie das Verhältnis von Leidenschaft und Erscheinungsweise zu bestimmen sei, bleiben unbeachtet oder reduzieren sich auf die Formulierung von Sartres "existentialistische[m] Zug". (148) Hier tritt ein grundlegendes Problem der Gewichtung hervor: Dass neben Butler mit Klaus Holz auch ein Autor und Mitherausgeber des Bandes länger abgehandelt wird als etwa Sartre oder die bedeutende israelische Historikerin Shulamit Volkov, wirkt irritierend.

Ebenso irritiert, dass die gewählten Kategorien "Grundbegriffe" und "Positionen" über weite Strecken illegitim verwischt werden. Der Beitrag "Postkolonialer Antisemitismus" wird unter den "Grundbegriffen" gelistet, zeichnet aber eine partikulare, zum Teil fahrlässige Position. Behauptet wird hier bezüglich der Relativierung des Holocaust: "Relativierung ist nicht gleich Relativierung, ihre Bedeutung ergibt sich [...] auch aus dem Sinnzusammenhang". (56) Weiter heißt es, dass "was in Europa [...] eine Relativierung von Jahrhunderten Judenhass ist, [...] in Südamerika und in weiten Teilen Afrikas anders [klingt]." (54) Relativierung wird nicht primär als eine Wirklichkeit begriffen, sondern als etwas, das "klingt", weil darüber gesprochen wird. Der Beitrag erörtert dementsprechend auch nicht, was "postkolonialer Antisemitismus" ist, sondern meint: "Die Rede von einem 'postkolonialen Antisemitismus' ist in dieser Pauschalität [...] sicher falsch". (56)

So präsentiert der Band einen Zugang zum Antisemitismus, der einen erhellenden Blick darauf gerade versperrt. Die Titelfrage "Was ist Antisemitismus?" wird mit einer summarischen und zugleich partikularen Literaturdiskussion beantwortet. Der Band verliert sich so in einer schlecht gewichteten Sammlung von Tertiärliteratur.


Anmerkungen:

[1] David Hirsh: Accusations of malicious intent in debates about the Palestine-Israel conflict and about antisemitism The Livingstone Formulation, 'playing the antisemitism card' and contesting the boundaries of antiracist discourse, in: transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien, 1/10 (2010), 47.

[2] Jean-Paul Sartre: Réflexions sur la question juive, Paris 1954, 19.

Luis Gruhler