Rezension über:

Itzhak Benyamini: Die israelische Angst. Psychopolitische Analysen der Ära Netanyahu. Aus dem Hebräischen von Yoav Sapir (= Passagen Thema), Wien: Passagen Verlag 2024, 142 S., ISBN 978-3-7092-0584-6, EUR 20,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Tamar Amar-Dahl
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Tamar Amar-Dahl: Rezension von: Itzhak Benyamini: Die israelische Angst. Psychopolitische Analysen der Ära Netanyahu. Aus dem Hebräischen von Yoav Sapir, Wien: Passagen Verlag 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/39273.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Itzhak Benyamini: Die israelische Angst

Textgröße: A A A

Implodiert das politische System Israels? Diese Frage lässt sich nach der Zäsur vom 7. Oktober 2023 ernsthaft stellen: Die Justizreform der sechsten Regierung Netanyahu und - damit verbunden - die Massendemonstrationen der israelischen Linken gegen den versuchten "Staatsstreich" zeigten die tiefen soziopolitischen Spaltungslinien auf, so dass schon vor dem Terrorangriff der Hamas vom drohenden Bürgerkrieg die Rede war. Der Überfall, die Tötung und Verschleppung zahlreicher Zivilisten und Soldaten, geriet zu einem sicherheitspolitischen Debakel. Dem beispiellosen Terrorakt folgte der ebenso beispiellose Vergeltungsfeldzug in Gaza, der Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in den Haag in den Verdacht des Genozids brachte. Mittlerweile hat sich der Krieg auf mehrere Fronten ausgeweitet: den Libanon, das Westjordanland, Syrien, dazu auch erstmals offen auf den Iran und sogar den Jemen. In Israel mussten ganze Landstriche evakuiert werden und sind nach wie vor unbewohnbar. All dies geschieht unter der Führung eines höchst umstrittenen Premierministers, was viele Israelis regelrecht verängstigt. Schwerwiegende Erschütterungen des politischen Systems konnten nicht ausbleiben. 

"Die israelische Angst" ist das Thema des schmalen Essaybands. Präsentiert werden Aufsätze des israelischen Philosophen Itzhak Benyamini mit Benjamin Netanyahu als zentraler Figur, dem Langzeitpremier, der erstmals 1996 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde und dessen Karriere sich als Ausdruck einer tiefgreifenden Sinnkrise des zionistischen Israel verstehen lässt. Schon das Vorwort "Netanyahus Angstmaschine" - kurz nach dem 7. Oktober 2023 verfasst - verrät den Konnex von Krise, Angst und Machterhaltungsstrategie: Netanyahu versetze "die israelische Psyche mithilfe politischer Spannung in einen andauernden Ausnahmezustand". Linkszionisten und Rechtszionisten "werden vom Psychologen Netanyahu in ihrer jeweiligen Einstellung zur Angst gezielt beeinflusst. [...] [A]ber jede [Seite] positioniert sich anders zur Angst." (12). Die den Linken zugeschriebene "bürgerliche" Angst werde zur "nationalistischen" Angst transformiert. Den Rechten wird eine "patriotische" Angst zugeschrieben, deren Objekt jedoch innenpolitisch sei: "Es ist das von Netanyahu und seiner Gefolgschaft lange herangezüchtete Stereotyp des säkularen, liberalen, aschkenasischen Tel Avivers. Er ist der Volksfeind." (13 f.). Netanyahus apokalyptische Rhetorik gepaart mit seiner tatsächlichen Palästina-Politik sorge dafür, dass die Angst als Grunddisposition der Israelis durchaus begründet bleibe.

Schlüsselbegriffe der Analyse - das Mizrachi-Sein, das Aschkenasisch-Sein, der Protest gegen Netanyahu - werden im ersten Aufsatz "Grundlegende Einführung in die ausländische Ausgabe" von "Die israelische Angst" ausgeführt. Diese drei Phänomene wiesen "eine seltsame Typologie auf". Die Massendemonstrationen von 2011, die als "Zeltlagerprotest" in die Geschichte eingegangen sind, vollzogen sich in Netanyahus Amtszeit und werden als ein aschkenasischer Protest wahrgenommen, während das Mizrachi-Sein mit der Unterstützung Netanyahus identifiziert wird. Diese gesellschaftliche Aufteilung hält der Autor jedoch für ein Konstrukt, für eine "soziologische Ambiguität". Denn der Premier fungiere dabei als "ein bestimmender Signifikant, der eine bestimmende Unterscheidung zwischen diesen verschwommenen Identitäten ermöglicht, und zwar unter Verwendung weiterer Signifikanten wie jüdisch, rechts, national, traditionell" (44). Es sei Netanyahu also 2011 durch Manipulation gelungen, die Massendemonstrationen gegen seine Sozial- und Wirtschaftspolitik effektiv einzudämmen.

Der zweite Aufsatz "Das Unbehagen des Staatsbürgers: Der Zeltlagerprotest und das Theopolitische" thematisiert diese zentrale Spaltungslinie des politischen Systems Israels und gelangt zum "Unbehagen der israelischen Subjektivität" (49). Die interessante These: Das säkulare Staatsbürgerliche und das Theologische seien im Kontext des zionistischen Israel unauflöslich aneinander gekoppelt und so zum unentschiedenen Kulturkampf verurteilt. In diesem Dauerkampf um die Staatsorientierung werde den Staatsbürgern der eigene Staat immer unheimlicher - eine wohl günstige Konstellation für Netanyahu.

Dazu passt auch der dritte Aufsatz "Etwas vom Mizrachi-Sein: Über den Identitätskern infolge von Freuds Nachträglichkeit". Hier steht die im israelischen Diskurs nach wie vor umstrittene Identität der israelischen Juden aus dem Orient sowie dem Maghreb im Zentrum. Die Mizrachi-Identität wird hier als "ideologisches Konstrukt" beschrieben, als "eine Fiktion", auch wenn diese wohl "effektiv, weil so affektiv" ist (75). Denn: "Das Mizrachi-Sein wird über die Unterstützung Netanyahus definiert, während die Unterstützung Netanyahus durch das Prisma des Mizrachi-Seins erklärt wird." (80). Die strukturelle Diskriminierung der Mizrahim erscheint in dieser Sichtweise als zweitranig. Das Wesen ihrer Identität als immerwährendes Opfer des Systems sei ein Konstrukt, das aus politischen Gründen immer wieder neu hergestellt werde. Vom "identitätsmythischen Teufelskreis" (80) von "[m]ythologische[r] Struktur" (83) ist daher die Rede. Entstanden sei sie "innerhalb der Zwistigkeit der verlogenen Identität. D.h. sich innerlich als Araber fühlen und kulturell als Araber leben, aber äußerlich den Araber hassen, um sich vom Feind des Zionismus zu distanzieren und um innerhalb des Unbehagens und der identitätsmäßigen Minderwertigkeitsgefühle im aschkenasisch-zionistischen Raum die eigene Stellung zu stärken." (86). Doch weshalb sind diese Minderwertigkeitsgefühle politisch so nachhaltig instrumentalisierbar, dass Netanyahu die Vergangenheit immer wieder neu konstituiert, so dass ihm immer wieder gelungen ist, die Mizrahim an ihn zu ketten?

Die arabischen Juden Israels sind nur eine der Machtquellen des Langzeitpremiers, wie der Autor selbst feststellt: Netanyahu sei "das Politische Israels, die Zusammenfassung des Politischen, eine negative Inkarnation des Israeli-Sein-Komplexes" (94). Er verkörpere sämtliche Schattenseiten des Israelis-Seins. Weshalb hat Netanyahu das zionistische Israel so sehr im Griff? Der letzte, 2019 verfasste Aufsatz "Die israelische Angst mit Freud, Heidegger, Lacan, Netanyahu" sucht Antworten im psychopolitischen Bereich. Die radikale These: Die israelische Grundangst resultiere aus dem tiefsitzenden Gefühl der Heimatlosigkeit. Es ist die Rede von der Negation, vom Nichts: "Dieses Nichts-Wesen im Israeli-Sein ist der Holocaust. Der Holocaust ist das festeste Sein. Die meisten Identitäten und Subidentitäten entstehen um den Holocaust herum als eine Art mächtiges Ding" (113). 

Das Unheimliche im eigenen Staat gründe sich auf der stetigen Vergegenwärtigung des Erzfeinds - "den Nazi", "den Araber" oder "den Iraner" -, um das Nichts verdrängen zu können. Daher der Dauerausnahmezustand: "Die Kriege gegen den Feind sind nur Tarnung für eine noch größere Angst. Darum gilt es, eine andauernde kleine Kriegsführung aufrechtzuerhalten, ohne dass diese in einen zu großen Krieg übergeht, denn damit ginge die Tarnung verloren." Diese Tarnung verhülle zuerst sich selbst und verberge erst danach ihr Objekt. Deswegen dürfe der Krieg nicht übertrieben werden. "Erst auf dieser Grundlage kann er das noch schrecklichere Nichts tarnen, das die Angst zu bewältigen hat" (107). 

Bedeutet die Zäsur vom 7. Oktober 2023 die endgültige Enttarnung des besagten Nichts und damit zugleich die israelische Erkenntnis, das zionistische Staatsprojekt einer sicheren Heimat für die Juden sei gescheitert? Sind sämtliche Verdrängungsmechanismen nun unwiderruflich zunichtegemacht worden? Der Autor verwendet Jacques Lacans Begriff jouissance, um eben das Illusionäre, das Überzeichnete am israelischen Glücknarrativ zu unterstreichen. Sein Argument: Gerade aus der Dialektik zwischen dem Angst- und dem Glücks-Diskurs resultiere Netanyahus Macht: Die Angst vor dem ewigen Krieg und vor dem Zerfall Israels begünstige im Verein mit der Illusion, Israel sei eine normale westliche Demokratie, den Politikertypus des Zauberer-Erlösers, wie ihn Netanyahu verkörpere.

Seit dem 7. Oktober 2023 kämpft der Regierungschef mehr denn je um sein politisches Überleben. Schafft er Israels demokratische Strukturen ab, um mithilfe rechtsradikal-neozionistischer Kräfte seine Macht zu sichern? Oder bedeutet der aktuelle Krieg das Ende der Ära Netanyahu? Die Antwort auf diese Frage wird richtungweisend sein für Israels Zukunft.

Tamar Amar-Dahl